Ist es der Anfang einer „neuen Realität“? Sind es die ersten, vorsichtigen Schritte zurück in die Zeit „vor dem Virus“? Der Gesetzgeber lässt Livekultur auch indoor unter gewissen (und in Teilen auch sinnvollen) Hygiene- und Schutzmaßnahmen wieder zu.
Bedeutet für den Roßmarkt: Mit einem Drittel der normalen Schlagzahl bei weniger als einem Viertel der ursprünglichen Kapazität. Fun Fact am Rande: Um das Ganze wirtschaftlich halbwegs sinnvoll abzuwickeln, müsste in dieser Konsequenz ein Ticket 120 Euro und ein Bierchen zehn Euro kosten. Was dieser Wiedereinstieg für die Beteiligten bedeutet, hat FRIZZ Das Magazin in einer mit Paul Gehrig (Flux), Jürgen Wüst (ABtown Houzeband) und Max Berninger (Colos-Saal) bequatscht.
FRIZZ Das Magazin: Wann wurde die Entscheidung getroffen, dass ihr im September diese ausgewählten Shows veranstaltet und was waren die ausschlaggebenden Punkte dafür?
Max Berninger (M): Ende Juli, und dafür gab es zwei Gründe. Zum einen die emotionale Seite, denn wir wollen und müssen auch zeigen, dass es uns und die Bands noch gibt – und dass wir alle nach wie vor massiv leiden. Mit wirtschaftlich sinnvollem Handeln hat die Öffnung zunächst nichts zu tun, aber das bringt uns zum nächsten Punkt, nämlich den Förderprogrammen. Es gibt da ein Neues vom Land Bayern, speziell für privat geleitete Spielstätten, über das wir sehr froh sind und das wir beantragen wollen. Allerdings herrscht noch Unklarheit: Reicht es aus, die Planungen für einen regelmäßigen Spielbetrieb wieder aufzunehmen oder muss bereits ein Programm laufen, um förderfähig zu sein? Und da dieses Förderprogramm für uns schlicht überlebenswichtig ist, wollen wir auf der sicheren Seite sein und bieten daher ab September diese Konzerte an.
Wie ist die Auswahl der Konzerte von statten gegangen?
M: Wir haben uns auf die Shows konzentriert, die überhaupt durchführbar sind. Das hat etwas mit verschiedenen Parametern zu tun. Internationale Acts sind so gut wie unmöglich und auch bei nationalen Künstlern müssen wir viel checken: Reiselogistik, technischer Bedarf, Hotels …
Paul Gehrig (P): Dazu kommt ja, dass die meisten Künstler normalerweise im Rahmen von Tourneen in die Clubs kommen. Hier sind Vorlauf- und Planungszeiten von über einem Jahr die Regel. In den letzten Monaten wurde alles gecancelt oder verschoben und die können jetzt nicht einfach für eine Show im Colos-Saal ihre ganze Infrastruktur in Bewegung setzen. So was funktioniert gerade nur mit Künstlern, die flexibel, lokal und spontan spielen können …
Jürgen Wüst (J): Die allermeisten Bands hätten überhaupt nichts davon, wenn sie jetzt nur zweimal in Deutschland irgendwo spielen könnten. Für die rechnet sich das überhaupt nicht.
P: Ein Teufelskreis. Denn der Musiker selbst sitzt momentan tendenziell mehr im Büro, hat zusammen mit seinem Management alle seine Termine gecancelt oder verschoben, inzwischen wahrscheinlich schon zum zweiten Mal. Dementsprechend haben sich seine Verwaltungsarbeiten vervielfacht, wohingegen sich seine Spielzeit, also die Zeit zum Geld verdienen, auf null reduziert hat.
J: Und dazu kommt, dass auf allen Seiten, also Veranstalter, Künstler und Besucher, viel Verunsicherung herrscht. Zum einen wegen der Krankheit an sich, zum zweiten natürlich auch wegen des ganzen Termin- und Auflagenchaos’. Ich persönlich blicke auch fast schon nicht mehr durch, wann ich mit wem eventuell, angeblich oder tatsächlich irgendwo auftreten kann oder soll.
Gerade auch für Besucher ist das im Moment sehr schwer zu greifen. Auf der einen Seite werden Shows im Oktober und November aus Auflagengründen oder sonstigen Gegebenheiten abgesagt, während an anderer Stelle alternative Konzepte – wie zum Beispiel im Colos-Saal – neue Shows vermelden. Und natürlich haben die allerwenigsten Kartenkäufer diesen Blick hinter die Kulissen, um zu verstehen, wer jetzt wie und aus welchen Gründen handelt. Dass sie dann verwirrt und zudem vielleicht noch sehr zurückhaltend mit dem Ticketkauf sind, ist verständlich, oder?
M: Klar! Auch weil die Verlegungen und Absagen bei den Anbietern komplett unterschiedlich gehandelt werden. Der eine Club sagt die Show von Künstler XY ab, während der andere Club den gleichen Künstler auf „unbekannt“ verschiebt. Auch die Ticketanbieter handeln unterschiedlich. Bei dem einen bekomme ich als Käufer mein Geld zurück, bei dem anderen einen Gutschein. Der Endkunde muss in der Tat sehr viel Geduld und Übersicht beweisen, das ist bestimmt nicht einfach.
Dann lass uns doch mal kurz das anstehende Flux-Konzert am 15.9. beleuchten. Ihr habt viel Arbeit investiert, ein neues Album herausgebracht und euer Konzertjahr schon lange geplant.
P: Das neue Album „Flux on Earth“ haben wir vergangenen Herbst aufgenommen und es sollte in diesem Sommer live releast werden. Dass das Albumthema „Erde“ auf einmal so prägnant wird, hätten wir selbst nicht gedacht (lacht). Das Releasekonzert jetzt im September ist eine von drei Shows, die von ursprünglich geplanten 15 übrig geblieben sind. Um es mal aus dem Blickwinkel des Musikers zu sehen: Es gibt Leute wie mich, die die Musik nur als leidenschaftliches Hobby im Nebenerwerb betreiben und es gibt die Berufsmusiker, wie beispielsweise meine beiden Flux-Kollegen. Einige Berufsmusiker geben Unterricht, die können im Moment ein paar wenige Einnahmen generieren. Was aber ganz viele Menschen nicht verstanden haben, ist, dass es viele nur von den Live-Auftritten leben. Die generieren damit einen ganz normalen Gehaltsdurchschnitt, können ihr Haus bezahlen und ihre Familie ernähren. Ihnen sind nun sämtliche Verdienstmöglichkeiten weggenommen worden. Ich kenne viele Musiker, die jetzt Hartz IV beantragen.
J: Nicht nur die Musiker. Da hängen noch so viele weitere Arbeitsplätze dran wie Agenturen, Technik-Verleiher, Techniker, Freelancer … die Reihe ist endlos. Das einzige, was im Moment stattfinden kann, sind irgendwelche Minigigs. Da kannst du dich als Musiker glücklich schätzen, wenn du das passende Instrument spielst, ein gutes Netzwerk und dich nicht irgendwann mal spezialisiert hast. Ein reiner Jazzmusiker ist aktuell ein klarer Fall für Hartz IV. Der spezialisierte Metalgitarrist ebenfalls und so weiter und so fort. Und das betrifft übrigens auch Musiker aus bekannten Bands.
FLUX
Aber was macht das emotional mit einem? Zwei Jahre Arbeit an Album sowie Tour und dann fällt alles in sich zusammen. Und dass die Colos-Saal-Show klappt, war ja auch lange nicht klar. Wie ist das, in der Luft zu hängen?
P: Du hast vollkommen recht, man investiert bei einem Album sehr viel, auch Geld, in die Zukunft. Und es ist natürlich der ureigenste Wille eines Muckers, diese Musik dann auch live zu präsentieren. Das ist nicht nur der Weg, die Kosten zu refinanzieren und am Ende noch was zu verdienen, sondern es befriedigt auch den ursprünglichen Antrieb. Jürgen hat es schon gesagt, der psychologische Faktor wird total unterschätzt. Die Ist-Situation ist schlimm – aber noch viel schlimmer ist die Gesamtperspektive. Wir alle haben keine Ahnung wie die Reise weitergehen soll, weil sich über den Winter hinweg höchstwahrscheinlich nichts verbessern wird. Und dann kommt neben der ganzen Traurigkeit ein weiterer Aspekt dazu, die Wut. Die Wut, wenn du die Ungleichbehandlung dieser Pandemie mit unserer Branche im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen siehst.
Jürgen, ihr gastiert mit der Houzeband regelmäßig hier im Colos-Saal. Alle Bandmitglieder spielen noch in anderen Bands, teilweise bei sehr bekannten deutschen Musikern, und haben damit ihr Geld verdient. Das fällt nun alles aus. Welchen Stellenwert hatte ein Houzeband-Gig für euch vor Corona – und welchen hat er heute?
J: Einen großen Stellenwert, weil es außenrum gerade wenig bis keine sinnvollen Auftrittsmöglichkeiten gibt. Wir haben im Nilkheimer Park gespielt und das war wie Weihnachten und Ostern am gleichen Tag. Ein Konzert im Freien für echte Menschen und es hat sich fast normal angefühlt (lacht). Ähnlich wird es jetzt auch bei der Doppelshow im Colos-Saal sein. Es wird ein bisschen anders aussehen, klar, aber das ist uns egal.
Gab es bei euch trotz der aktuellen Möglichkeiten eigentlich auch mal den Moment, an dem ihr euch gedacht habt „das hat doch alles keinen Sinn“?
P: Der Wirt, die Restaurants, die Veranstalter, die Musiker, die Kreativen … alle machen das, was sie tun, aus einer großen Leidenschaft heraus und kämpfen auch für diese. Da macht man auch Sachen, die vielleicht auf Anhieb nicht wirklich Sinn ergeben. Das Colos-Saal aufzumachen, ist genau so eine Sache, aber Max hat das ja schon erklärt. Zudem sind solche Konzerte vielleicht auch eine Art zusätzlicher Kommunikationsweg, um den Zuschauern auch die Situation der Musiker und der Eventbranche näher zu bringen.
J: Für mich ist es auch schlicht eine Maßnahme, überhaupt mal wieder anzufangen. Du kannst ja nicht ewig nichts machen und denken, irgendwann geht’s wieder ab wie früher. Wir müssen anfangen, die Möglichkeiten der aktuellen Zeit zu erforschen. Funktionieren Doppelshows, macht das allen Spaß? Es gibt so viel offene Fragen, die man jetzt nur durch die Praxis beantworten kann.
Jürgen, wie hast du die Zeit der Pandemie bislang erlebt?
J: Für mich war das in Phasen aufgeteilt. Am Anfang war es sogar relativ entspannt und ich habe mich gefreut, weil ich endlich mal Sachen machen konnte, die ich wegen Zeitmangels immer aufgeschoben hatte. Dann kamen Phasen, die nicht mehr ganz so schön waren, finanziell und auch emotional. Aktuell frage ich mich einfach, ab wann es eigentlich meinen Beruf wieder geben wird. Für mich ist dieser Punkt noch nicht erkennbar.
Welche Erwartung habt ihr an die ersten Indoor-Konzerte im Colos-Saal seit März?
P: Da wir sowieso Konzerte vor Sitzpublikum spielen und keine ausgesprochene Partyband sind (lacht), wird das ähnlich wie sonst auch. Was ich an anderer Stelle schon feststellen konnte, ist, dass sich das Publikum sehr nach Livemusik sehnt.
J: Bei der Houzeband ist es ja nicht ganz so konzertant wie bei Flux, aber auch nicht so unbedingt partymäßig. Irgendwas auf halber Strecke würde ich sagen. Und bei uns ist es in der Regel auch bestuhlt. Ich könnte mir also vorstellen, dass es sich für alle schon angenehm anfühlt.
M: Ich bin sehr gespannt. Klar haben wir auch schon viele bestuhlte Konzerte durchgeführt, aber nicht mit diesen strikten Auflagen. Aus meiner Sicht ist die Frage, ob die Leute die Auflagen und deren Umsetzung akzeptieren. Obwohl wir uns da auf keine Diskussionen einlassen (lacht). Ich hoffe aber, dass das stressfrei läuft, gerade weil bei der Houzeband und Flux aufgrund der ursprünglichen Ausrichtung mit bestuhltem Publikum keine grundlegenden Änderungen stattfinden. Anders zum Beispiel bei Shows wie Yasi Hofer & Band oder Coversnake zum Beispiel. Da würden normalerweise maximal vier Barhocker im Laden stehen, so was gibt’s einfach nicht in bestuhlt!
Du meinst „GAB es bisher nicht“ …
M: Gab’s nicht. Richtig (lacht). Wir dürften ja sogar unbestuhlte Konzerte machen. Da wäre die Kapazität dann 50 und ich müsste wahrscheinlich den ganzen Abend mit dem Metermaß durch den Saal laufen und Leute auseinanderschubsen. Aber im Ernst: Diese Option haben wir sehr schnell verworfen.
Mit welchen besonderen Herausforderungen seid ihr aktuell bei der Umsetzung der Konzerte konfrontiert?
M: Da gibt es einige. Wir haben ja zum Beispiel kommuniziert, dass Einzelreservierungen aktuell so für uns nicht zielführend sind. Das hat uns selber wehgetan, denn wir wissen ja, dass es Gäste gibt, die alleine auf ein Konzert gehen. Aber ohne die Gruppenreservierungen bekommen wir einfach die 100er-Kapazität nicht hin. Darüber hinaus werden zum Beispiel die Umbaupausen zwischen den Doppelshows sehr spannend. Das erste Publikum verabschieden, Tische und Sitzplätze reinigen und desinfizieren, Tische gemäß der Gruppenbuchungen der zweiten Show umstellen und anpassen und das zweite Publikum einlassen. Und das alles in 30 Minuten, da müssen wir uns echt ranhalten.
Könnt ihr mir zum Abschluss eine Art finales Statement geben?
P: Ich finde, es gibt nach wie vor eine zu geringe öffentliche Wahrnehmung gegenüber den Menschen in der Musik-, Konzert- und Eventbranche. Alles Leute, die normal gearbeitet haben, ihr Haus abbezahlen, ihre Familie ernähren und denen gerade unverschuldet alles genommen wird. Sie müssen ihre Ersparnisse aufbrauchen, bekommen nahezu keine Unterstützung und auch keine Perspektive. Das ist ein enormer Druck, sowohl finanziell als auch psychisch, und das ist in der Gesellschaft einfach noch nicht angekommen. Zudem muss klar werden, dass die gesamte Kultur in Deutschland bereits irreparabel beschädigt ist und wir das unbedingt bremsen müssen.
J: Kultur entsteht oft aus Subkultur. Viele kulturelle Einrichtungen, vor allem kleine und private, werden nicht überleben, da im Moment fast ausschließlich die „Hochkultur“ stabilisiert wird. Aber Kultur ist eben nicht nur Oper. Es wird ein Großteil des kulturellen Nährbodens vernichtet und bis sich das alles wieder normalisiert hat, vergehen viele Jahre.
M: Die öffentliche Wahrnehmung von Clubs wie dem Colos-Saal war bislang eine richtige Achterbahnfahrt. Am Anfang wurden wir noch in einem Satz mit Bordellen und Spielhallen genannt, aber inzwischen ist die „nicht öffentlich geförderte Spielstätte“ eine Begrifflichkeit, deren Existenz sogar in der Politik realisiert wurde. Denn zumindest gibt es jetzt in Bayern das eingangs erwähnte Förderprogramm, über das wir wirklich sehr froh sind, weil es für uns existenziell wichtig ist.
Und es ermöglicht allen zumindest wieder ein erstes Progrämmchen im Wohnzimmer! Vielen Dank für das offene Gespräch!