Nach dem Lockdown kommen jetzt die ersten Lockerungen, auch im Kulturbereich. Wir sind uns einig, dass diese für Clubs und Theater jedoch keinen wirtschaftlich sinnvollen Spielbetrieb ermöglichen. Was allerdings in den letzten Tagen und Wochen zunimmt, ist das Angebot von Open-Air-Kulturbühnen in der erweiterten Region. Für viele Künstler bedeutet dies alles gerade ein Wechselbad der Gefühle zwischen abgesagten Tourneen und kurzfristigen Buchungen unter Hygienemaßnahmen. Einer von ihnen ist der Kabarettist, Comedian und Musiker Andy Ost.
FRIZZ Das Magazin sprach mit ihm über die aktuelle Lage, die neue Welt zwischen Autokino, Desinfektionsspender und proppenvollen Ferienfliegern. Inklusive Kurzlehrgang in die Physik einer Passagierzelle.
FRIZZ Das Magazin: Vor wenigen Wochen noch waren auch bei dir alle Termine gecancelt, durch die kurzfristig ins Leben gerufenen Freiluft-Kulturbühnen haben sich zum Beispiel für dich im Juli und August nun doch wieder neue Termine ergeben. Wie ist dein Eindruck nach den ersten absolvierten Shows, gerade auch was das Publikum betrifft? Sind die noch irgendwie angespannt aufgrund der Situation oder alles so wie früher?
Andy Ost: Also die, die kommen sind meiner Meinung nach alle gelöst, dankbar und froh. Bei allen diesen Shows wurde und wird extrem auf Hygienekonzept und Abstände geachtet. Trotzdem war das Ambiente immer sehr gut und die Veranstalter haben sich bei der Umsetzung dieser Konzepte unwahrscheinlich viel Mühe gegeben. Und: Auch wenn wir uns als Künstler gerade alle umgewöhnen müssen, hat es unfassbar viel Spaß gemacht. Ein anderes Thema ist die Wirtschaftlichkeit, denn für die Veranstalter ist das alles natürlich nicht wirklich die Lösung. Die meisten machen das wahrscheinlich eher aus Liebe zur Kultur und ihrem Beruf.
„Auch wenn wir uns als Künstler gerade alle umgewöhnen müssen, hat es unfassbar viel Spaß gemacht.“
Stichpunkt Atmosphäre: Künstler, egal ob Musiker, Kabarettisten oder Comedians, leben natürlich von der Interaktion mit dem Publikum. Jetzt sitzen bei den aktuellen Open-Air-Konzerten die Leute ja sehr weit auseinander, die Nähe, die Dynamik und die Masse, die dich als Zuschauer ja auch beeinflusst und mitreißt, fällt ja somit trotzdem zu einem großen Teil weg. Kannst du als Künstler dann den Funken überspringen lassen, obwohl so viele Löcher im Publikum sind?
Es ist vergleichbar mit Galas, wo die Leute an Tischen zusammensitzen und du somit diese kleinen Kreise mit einbeziehen kannst. Einen Funken kannst du schon überspringen lassen, aber klar, du hast ganz andere Distanzen zu überspielen. Von daher darfst du halt hinsichtlich Kraft und Energie nicht die Maßstäbe von früher anlegen, sonst wirst du vielleicht enttäuscht. Aber wenn du schon mal vor Autos gespielt hast, dann sind diese Shows natürlich eine merkliche Steigerung! (lacht)
Mal Hand aufs Herz, wie ist das vor Autos zu spielen? In den sozialen Medien kannst du natürlich immer die Lobeshymnen der Künstler nach Autokinoshows lesen. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich denen das immer so ganz abnehmen soll.
Ich glaube, das ist sehr situationsabhängig. Ich habe das jetzt einmal gemacht und zwar zu einem Zeitpunkt, als diese Autokino-Formate schon etabliert waren. Zudem war das eine Charity-Show für den guten Zweck. Ich dachte ehrlicherweise vorher auch, dass es super-schwierig wird, fand es aber am Ende dann doch ganz cool. Die Leute waren richtig dabei, wollten die auftretenden Künstler unterstützen, es war ein Höllenlärm durch das Gehupe. Manche saßen aber auch im Cabrio oder auf der Motorhaube, du hast auch Lacher und Applaus gehört. Eigentlich ist das total abstrus, denn auf einmal freust du dich über Dinge oder Formate, bei denen vor einem halben Jahr viele den Kopf geschüttelt hätten. Aber so war es eine schöne Erfahrung und ich bin froh, dass ich das mal machen konnte.
Stell dir vor, irgendjemand wäre in der Vor-Corona-Zeit mal auf die Idee gekommen, beispielsweise im Autokino in Gravenbruch statt eines Films ein Live-Comedy-Programm auf die Bühne zu bringen. Und hätte dich dann angefragt. Hättest du das gemacht?
Keinesfalls! (lacht). Ich habe es ja streng genommen auch jetzt nicht gemacht, denn Anfragen gab es da tatsächlich viele. Dieser eine Auftritt war erstens eine Mixed-Show und zweitens für den guten Zweck. Das allein waren die Gründe, mich daran zu beteiligen. Ein komplettes Soloprogramm vor Autos zu spielen, könnte ich mir nicht vorstellen. Auch das jetzt als wirkliches Geschäftsmodell zu sehen, ist meiner Meinung nach weit weg von dem, warum ich mir diesen Job mal ausgesucht habe.
„Ein komplettes Soloprogramm vor Autos zu spielen, könnte ich mir nicht vorstellen.“
Ich behaupte jetzt mal, dass du nach einer Show vor einem ausverkauften, brodelnden Haus zwar körperlich erschöpft, aber höchstwahrscheinlich mit Endorphinen bis unters Dach vollgepumpt bist. Wie viel anstrengender ist das für Künstler jetzt bei Shows vor Blechhaufen oder einem weit verstreuten Publikum ohne große Dynamik?
Welten! Du spielst vor allem nur Nummern, die perfekt sitzen und aus dem Eff Eff kommen. Bei neueren Nummern musst du ja manchmal noch schrauben, das Wording und Timing optimieren und an der Dramaturgie arbeiten. Dieses Überprüfen oder „warmspielen“ von neuen Sachen geht in einem solchen Szenario einfach nicht.
Die Premiere des neuen Programms vor Autos ist also ausgeschlossen?
Absolut! (lacht). Aber im Ernst: Es gibt ganz sicher auch Leute und Kollegen, die das anders sehen. Das ist natürlich auch ok.
Jetzt spielst du also gerade Shows unter Hygiene- und Abstandsregeln. Künstler und Publikum sind froh, dass es diese Möglichkeiten gibt, so weit, so gut. Und auf der anderen Seite quetschen sich 350 Mann in einen Ferienflieger. Wenn zu diesem scheinbaren Missverhältnis einer eine fundierte Meinung haben kann, dann ja wohl du, als Künstler und ehemaliger Berufspilot. Die Airlines führen in diesem Zusammenhang die perfekten Lüftungsmechanismen in den Flugzeugen an. Ist das wirklich so?
Ja und nein. Also die Argumentation von den Airlines ist schon ein Stück weit schlüssig. Du musst dabei wissen, dass die Passagierzelle während des Fluges innen einen höheren Druck hat, als von außen kommt. Das hat mit der dünneren Luft in der Höhe zu tun, die Leute sitzen ja quasi in einer Druckkabine. Dementsprechend wird die Luft durch diese Überdrucksituation automatisch abgesaugt, beziehungsweise wird die Zirkulation dadurch schon rein physikalisch unterstützt. Aber wenn beim Flugzeug die Tür offen ist, sprich beispielsweise am Boden, ist es natürlich ungleich schwieriger diese Konstellation, auf die sich die Airlines in Sachen Kabinenluft beziehen, aufrechtzuerhalten. Ich glaube, dass auch in Flugzeugen kein hundertprozentiger Schutz gewährleistet werden kann, finde es aber auch unrealistisch, so etwas zu verlangen. Autofahren birgt Risiken, wenn ich mich ins Gras setze, gibt es Zecken. Überall lauern Gefahren und Risiken und dennoch glaube ich, das Leben möchte gelebt werden. Und ich fühle mich besser, wenn ich mich dem Leben etwas mehr anvertraue als ständig nach Sicherheiten zu suchen, die häufig auch noch subjektiv sind. Aber das ist unter dem Strich wieder ein Thema, bei dem Eigenverantwortung eine Rolle spielt. Wenn ich weiß, dass ich gefährdet bin oder Angst habe, steige ich momentan möglicherweise nicht in einen Flieger. Aber wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich ausreichend schützen kann und damit klar komme, dass da jemand nah neben mir sitzt, soll und kann das doch ok sein.
Wie beurteilst du dann die, teilweise auch in der Kulturbranche, sehr hitzige Diskussion um diesen Bühnen-Flugzeug-Vergleich als Platzhalter für viele andere aktuelle Streitpunkte?
Am schwierigsten finde ich grundsätzlich – aber auch bei diesem Thema – dieses sture Schwarz-Weiß-Denken vieler Leute. Egal welches Statement man abgibt, es wird entweder radikal zugesprochen oder du stößt auf die blanke Ablehnung, weil viele Menschen eine andere Meinung einfach nicht aushalten. Es wird einfach nicht mehr sachlich diskutiert und respektiert. Dabei ist der Mensch doch an sich voller Widersprüche. Zum Beispiel der Fleischesser, der über klimaschädliche Schiffe herzieht. Die menschliche Psyche ist paradox und viele weltliche Zusammenhänge sehr komplex, das ist einfach mal so und ich kann daher mit dieser vereinfachenden und bevormundenden Haltung mancher Menschen nicht viel anfangen.
„Ich bin Realist“
Würdest du dich jetzt gerade in ein Flugzeug setzen?
Ja. Aber ich würde auch in ein Theater gehen. Weil ich das, mal abseits von geltenden Schutzmaßnahmen, die ich selbstverständlich respektiere, für mich so abwägen würde und für mich selbst verantworten könnte. Eigenverantwortung halt. Und jetzt wird es wieder paradox, denn dann kommen andere Leute, schauen sich die Ereignisse auf dem Frankfurter Opernplatz an und fordern mehr Regeln, da dort einige mit Eigenverantwortung nachweislich nicht umgehen können. Haben diese Leute unrecht? Wahrscheinlich nicht. Solche Beispiele spiegeln einfach diese schwierige Situation wider, in der wir uns alle gerade befinden.
In dieser schwierigen Situation gibt es dann die Politiker, die für uns alle irgendwelche Entscheidungen treffen müssen und Regeln aufstellen. Unter anderem auch Regeln, die uns Kulturschaffende beispielsweise bei ausbleibender Unterstützung massiv einschränken, was wiederum für nicht wenige existenzbedrohend wird. Was empfindest du für diejenigen, die gerade diese Entscheidungen treffen müssen?
Es geht nicht so sehr um die reine Empfindung. Ich würde zum Beispiel viel mehr wünschen, dass Politiker zuallererst mal die Angst davor verlieren, einfach authentisch zu sein. Ich fände es toll, wenn einer mal sagen würde „Wir haben dann und da diese eine Entscheidung getroffen … und das war falsch. Heute sehe ich das anders“. Dazu müssten wir alle, auch die Medien, diesen Leuten aber auch das Recht auf persönliche Weiterentwicklung zugestehen, damit die auch angstfrei sagen könnten: „Heute weiß ich es besser“. In unserer aktuellen Gesellschaft muss jeder, der mal Schwäche zeigt, damit rechnen, umgehend den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden. Das ist furchtbar.
Lass uns mal zwei Blicke in die Zukunft werfen. Erstens: Was wären deine persönlichen Wünsche bis zum Ende des Jahres? Zweitens: Was denkst du, wird reell passieren?
Boah. Zum einen würde ich mir einfach eine transparente, nüchternere und faktenbasierte Berichterstattung wünschen. Die Medien sollten das Virus nicht mehr dazu benutzen, um Angst zu schüren und mit irgendwelchen Horrorstorys Klicks zu generieren. Ich glaube, dass uns Neid oder Opferhaltung derzeit nicht weiterhelfen, sondern hoffe darauf, dass im Miteinander konstruktiv auf allen Ebenen auch mit der Politik Wege erarbeitet werden, wie Kultur in Zeiten wie diesen aussehen kann, und wirtschaftlich gearbeitet werden kann, ohne fahrlässig Menschen zu gefährden. Aber es betrifft uns, glaube ich, als Kollektiv, denn die Krise hat ja viele Branchen und Menschen wirtschaftlich hart getroffen und wir werden somit auch alle gerade innerlich geprüft und herausgefordert. Aber gerade in diesen Zeiten liegt ja auch das größte Wachstumspotenzial, und wenn dieses mal nicht wirtschaftlich, dann vielleicht menschlich (lacht). Das Wichtigste für mich ist die Gewissheit, dass mein Lebensglück nicht davon abhängt, wann ich das nächste Mal auf der Bühne stehe.
Bist du jetzt gerade ein Optimist oder Pessimist?
Ich bin Realist.
Danke für den wie immer netten und konstruktiven Plausch, Andy!