Der Sulzbacher Radioattack-Gitarrist Harry Hein hat in Pandemiezeiten ein viele Jahre vernachlässigtes Hobby wiederentdeckt. Mit beeindruckenden Ergebnissen, die gerade so richtig für Furore sorgen. Eine Geschichte von längst vergessenen Fertigkeiten, angenehmem Understatement und einer unbeantworteten Frage.
Die zwei schlaksigen Typen in der Ecke des Raumes sind nicht besonders redselig. Um genau zu sein, sagen sie gar nichts. Aber ihre Blicke verfolgen einen die ganze Zeit, und auch wenn man diesen Gesellen mit den totenkopfähnlichen Häuptern den Rücken zudreht, merkt man es genau. „Die zwei Brüder sind mir so sehr ans Herz gewachsen, die gebe ich garantiert nicht mehr her“, lacht Harry, als wir gemeinsam vor den beiden dünnen, aber über zwei Meter hohen Gestalten zum Stehen kommen. „Brüder“ trifft es in diesem Zusammenhang ganz gut, fast könnte man sogar schon von Zwillingen sprechen. Zumindest sind die beiden aus demselben Holz geschnitzt – und diese Floskel ist in diesem Fall komplett wörtlich zu nehmen. Uralte Eiche, um genau zu sein. Ihr Schöpfer Harry Hein, den meisten bekannt als Gitarrist der Bands Radioattack und Lost In A Maze, lässt den Moment noch ein bisschen wirken, bevor er die Führung durch sein Haus fortsetzt. Eben dieses Haus hat sich in Sachen Inneneinrichtung in den letzten 24 Monaten merklich verändert: Drinnen, draußen, überall stehen Statuen, Lampen, Weinständer, Figuren und Raumelemente aus Holz. Wie es dazu kam? Um das herauszufinden sind wir FRIZZen nach Sulzbach geritten.
Alles auf Anfang, Harry!
Um ehrlich zu sein, kam uns dieser Termin irgendwie ganz recht. Man kennt sich über die Musik schon seit vielen Jahren, hat sich durch Corona schon lange nicht mehr gesehen – und die Heinsche Kellerbar im Gewand eines kleinen „Metal-meets-70s-Kosmos“ wollte man sich eh schon lange mal live anschauen. Zeit also, die pandemietrainierten E-Mail-Interviews und telefonischen Fragerunden über Bord zu werfen und mal wieder so richtig schön live und in Farbe miteinander zu quatschen. Ausgangspunkt waren die Bilder von kunsthandwerklich hergestellten Unikaten aus Holz, die Harry seit geraumer Zeit in die sozialen Kanäle droppt und die seit neuestem unter dem Label „Hein Handwerkskunst“ firmieren. Also: Bierchen auf und ab in den Himmel aus Holz.
Angefangen hat das alles schon vor über 30 Jahren. Da Harry im erreichbaren Umkreis des Vorspessarts keinen Kettenanhänger fand, der seinem rebellischen Teenager-Ich gefiel, schnitzte er sich aus einem Stückchen Holz diesen spontan selbst. Knappe drei Stunden später hielt er damals einen länglichen, schreienden Kopf in der Hand, dem eine gewisse Ähnlichkeit zur berühmten „Ghostface“-
Maske nicht abzusprechen ist. Der Startschuss für eine Freizeitbeschäftigung der besonderen Art, die er zwei, drei Jahre betrieb und in dessen Verlauf er nicht nur unzählige, bizarre Kreaturen und Köpfe in verschiedensten Größen als Anhänger oder Standfiguren schnitzte, sondern sich auch bereits so etwas wie einen „Signature-Move“ aneignete: Langgezogene Gesichter mit überdimensionalen Partien wie Ohren, Zähnen oder Kiefern sieht man häufig als Ergebnis eines Schnitzabenteuers. Als Harry ins führerscheinreife Alter vorstieß, verblasste das Interesse an Schnitzmessern und astdicken Hölzern dann aber relativ rasch zugunsten der zwei großen Ms: Mädchen und Musik. Zudem beschäftigte sich der gelernte Zerspanungsmechaniker schon beruflich mit einem auch kunsthandwerklich genutzten Werkstoff, und das reichte ihm wohl zu dieser Zeit. So verbrachte Harry die letzten 25 Jahre im Job, der ihn mittlerweile über die Stationen des Betriebsrats in den Posten des hauptberuflichen Schwerbehindertenbeauftragten bei einem der größeren Arbeitgeber der Region brachte und ging mit eingangs erwähnten Bands auf Tour. In Sachen Schnitzereien passierte derweil genau nix, außer dass irgendwann mal zwei ein Meter lange Eichenbalken Einzug in die heimische Garage hielten, mit denen er allerdings nicht so recht etwas anzustellen wusste.
Das große C als Startschuss für eine neue Leidenschaft
Im März 2020 änderte sich innerhalb weniger Tage alles: Corona lähmte das Land quasi über Nacht, die Bands wurden in Tiefschlaf versetzt und die Firmen schickten ihre Mitarbeiter zuerst in den Überstundenabbau, dann ins Homeoffice und schließlich in Kurzarbeit. Oder eben eine Mischung aus allem. Harry hatte auf einmal mehr Zeit als gedacht und stieß bei der Suche nach neuen Aufgaben innerhalb der eigenen Grundstücksgrenze auf die beiden über 200 Jahre alten Balken, mit denen er „schon immer mal irgendwas machen wollte“. Ein klassischer Klick-Moment, denn noch am gleichen Tag saß er mitsamt eilig zusammengesuchtem Werkzeug auf der Terrasse und begann mit der Arbeit.
Er bearbeitete seinen Werkstoff dabei ohne Schablone und auch nur mit einer vagen Idee. Vielmehr überließ er dem Holz, seinen Händen und seinen Schnitzutensilien den Werdegang und behält diese Vorgehensweise bis heute bei. „Eigentlich weiß ich zu Beginn nie, wie ein Stück am Ende aussehen wird“, gibt er dementsprechend unumwunden zu und liefert die Erklärung gleich mit, denn „in der Regel arbeite ich ja mit Holzabfällen, Wurzeln, Reststücken oder alten Balken, an denen der Zahn der Zeit schon ordentlich genagt hat.“ Einen großen Teil seiner Arbeit nimmt dementsprechend allein schon der Prozess ein, die Ausgangsstücke von morschen, wurmstichigen oder kaputten Stellen zu befreien und den stabilen Kern freizulegen. „Allein dadurch entwickeln die Stücke wieder ein neues Leben und es ergeben sich ab und zu auch neue Einsatzmöglichkeiten.“ So kann es durchaus vorkommen, dass sich ein Holzstück nach dem ersten Schritt komplett verändert hat und so viele Löcher, Furchen oder Öffnungen aufweist, dass es im Endergebnis als Lampe viel schöner wird als die ursprünglich geplante Figur.
Seinem Erstlingsbalken hatte Harry nach circa einer Woche ein Gesicht geschenkt und um sich eine zweite Meinung einzuholen nahm er Kontakt zum Sulzbacher Steinbildhauer Manfred Schott auf, der unter anderem auch zu den Gründungsvätern der Menschwerk-Ausstellungen gehört. Dieser gab nicht nur sein Feedback und spendierte der Figur noch einen Metallfuß, sondern er erkannte auch das Potenzial von Harrys kunsthandwerklichen Fertigkeiten und fungierte in den ersten Tagen auch ein Stück weit als Mentor. Harry war „schockangefixt“ und ist es bis heute. „Durch Corona habe ich nicht nur ein altes Hobby wiederentdeckt, sondern eine totale Leidenschaft entwickelt“. Während des Lockdowns verbrachte er 30 bis 40 Stunden pro Woche in seiner Werkstatt, investierte viel Geld in ordentliches Werkzeug, ließ seine Kreativität sprudeln und schuf neben Statuen auch die ersten Lampen, Weinflaschen-Ständer oder Raumobjekte. Oder er war auf der Suche nach neuem Material, welches er in alten Scheunen, Abrisshäusern, am Wegesrand oder als Treibholz im Main fand. Es kam sogar vor, dass er beim Bestücken des heimischen Kaminofens den ein oder anderen Scheit vor der Einäscherung bewahrte – und dieser als Lampenunikat heute ein neues Leben führt. „Sobald ich im Ausgangsstück Potenzial sehe, fange ich an. Und bin immer selbst überrascht, was am Ende rauskommt!“

Lampe von Harry Hein
Vom Hobby zu „Hein Handwerkskunst“
Wenn die Arbeit mit Schnitzwerkzeugen und Stechbeitel beendet ist, geht’s ans Finish. Je nach Objekt werden diese geschliffen oder gebürstet und danach entweder eingeölt oder gewachst. Was alle Unikate gemeinsam haben: Harry hatte ursprünglich nie vor, diese zu verkaufen. Er arbeitete lange Zeit nur für sich und trotzdem blieben seine Stücke nicht unentdeckt. Erst wurden der Bekanntenkreis und danach immer mehr Leute auf seine Kunstwerke aufmerksam, bis Manfred Schott ihn überredete, in Sulzbach Teil der Ausstellung „Kunst & Musik“ im Spätsommer 2020 zu werden. Spätestens ab diesem Zeitpunkt waren seine Werke auch begehrte Kaufobjekte, was ihn zunächst vor die Frage stellte, was er mit seinem Tun überhaupt erreichen will. Die Antwort darauf benötigte eine gewisse Zeit, andererseits gab es stetig neue Kaufanfragen und überschwängliches Feedback der Leute. Irgendwann war es soweit, er trennte sich von den ersten Exponaten und war in der Welt des Kunsthandwerks angekommen. Gemeinsam mit dem befreundeten Grafiker Peter Klement wurde ein Logo entwickelt und die Außendarstellung optimiert. Wobei er sich nach wie vor fast schüchtern zeigt, wenn es um die Veröffentlichung seines neuesten Outputs geht und sich in einem sehr angenehmen Understatement übt, wenn man ihn als Künstler bezeichnet. „Ich mache das als leidenschaftliches Hobby und sehe mich nicht wirklich in einer Reihe mit etablierten Künstlern. Auch weil ich mich ja nach wie vor in der Entwicklungsphase befinde.“ Aber definiert sich Kunst nicht auch durch die permanente Entwicklung? Wann ist man Künstler? Was ist das überhaupt, diese Kunst?
Die Suche nach der Antwort dauerte in unserem Fall eine längere Zeit und mehrere Bierchen lang. Eine Antwort haben wir (noch) nicht gefunden, dafür aber zwei Erkenntnisse: Das Zeug von diesem Harry Hein, das ist schon ziemlich geil! Und die Zwillinge aus dem Wohnzimmer bleiben in Sulzbach, auch wenn ihm inzwischen schon satte vierstellige Beträge geboten wurden.