
Tocotronic
Mitte der 90er erschienen drei Jungs aus Hamburg und fast ganz Independent-Deutschland lag ihnen zu Füßen. Sie kamen, um sich zu beschweren, wollten Teil einer Jugendbewegung sein oder träumten vom Pizza essen mit Mark E. Smith. Mit einem scheppernden Gitarrensound und etwas kruden Texten. Zwischen scheinbaren Banalitäten, Ironie, Sehnsüchten und klugen Erkenntnissen. Hamburger Schule stand in den Magazinen und die deutschsprachige Antwort auf den Garagensound aus den USA oder England war endlich gefunden.
Mir war die Sache von Anfang an fremd. Ich weiß selbst nicht mehr genau warum, aber diese Drei nervten mich. Sie sahen aus wie die Jungs aus dem Germanisten-Trakt. Damals an der Uni in Marburg. Alte Trainingsjacken, dicke Brillen und eine Frisur, die keine war. Dabei trug auch ich manchmal alte Trainingsjacken und ab und an sogar gebrauchte Pullunder. Ich ließ mich an keiner Stelle auf dieses Thema ein. Trotz Trainingsjacke. Ich hatte Blumfeld und … But Alive als Eckpfeiler und davor und dahinter massig Gitarrenkram, der mir durchs Leben half. Schlauer als Distelmeyer und Wiebusch ging es doch eh nicht, also was soll der Quatsch. Noch Jahre später stritt ich die Bedeutung von Tocotronic ab. Zwischen zwei Freunden auf einem Frankfurter Balkon mit viel Apfelwein im Kopf. Ich brach eine Lanze für viele deutsche Bands. Tocotronic waren nicht dabei. Zweimal sah ich die Hamburger live. Irgendwann in den 90ern. Zweimal waren Chokebore im Vorprogramm der Grund für meinen Besuch. Tocotronic interessierten mich zu keiner Sekunde.
Die Einsicht kam. Schleichend. Unaufgeregt. Irgendwann verwendete ich Songzitate und hörte bei einzelnen Liedern aufmerksamer hin. Es dauerte seine Zeit mit uns. Eigentlich sogar ziemlich lange. Jetzt ziehe ich den Hut. Vor ihrem steten Drang nach Veränderung, ihrer Treue, ihrem fucking reifer werden ohne sich zu wiederholen, den klugen Texten.
Tocotronic sind bis heute Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller. Später kam noch Rick McPhail dazu. Seit „K.O.O.K.“ landeten all ihre Platten über kurz oder lang in den Top Ten der deutschen Albumcharts. Das will was heißen. Ohne sich anzupassen, sich zu biegen oder irgendeinen Kehricht um Erwartungen zu kümmern. Tocotronic haben sich nie getrennt, nur um Jahre später zum 20-jährigen Jubiläum eine „Digital ist besser“-Tour zu starten. Großen Respekt! Von einem, der das lange Zeit nicht erkannte. Hier ist Popkultur längst kein Schimpfwort. Tocotronic sind eine der wichtigsten deutschen Bands der letzten 20 Jahre. Das stimmt. Ohne Apfelwein im Kopf!