Ralph Rußmann Kolumne
Deutschland, so langsam aber sicher frage ich mich, ob an manchen Stellen die Sicherungen durchbrennen. Oder dank Corona bereits verkohlt sind. Hier laufen ein paar Dinge gehörig quer. Und während ich sinniere, suche ich gleich noch den gesunden Menschenverstand. Nicht überall, aber immer häufiger. Freunde, jetzt sortieren wir mal das Feld und behalten kurz die Sinne beieinander. Gerade eben war doch noch Lock-Down und das Ende der Welt. Richtig? Alle mit Schiss vor italienischen Verhältnissen, Intensivstation, Massengrab oder zumindest Langzeitschäden. Auch wieder richtig? Oder hab ich alles nur geträumt? Und jetzt feiern wir bereits Discoparty in Berlin, auf dem Frankfurter Opernplatz ist jeden Abend Afterwork, als wäre Covid-19 ein neuer Longdrink aus NYC und am Aschaffenburger Mainufer sind auch wieder großen Gelage am Start. Leute, ich bin kein Hypochonder und nicht ängstlich. Aber ich sag mal folgendes: Da haben ein paar schlaue Menschen lange studiert, ihren Beruf gelernt, geforscht und die wissen jetzt auch noch keinen Rat oder wie die Sache ausgeht. Denen vertraue ich jetzt so rein von der Qualifikation her mehr als einem veganen Koch oder Xavier Naidoo. Letzterer ist in der rechten Rille hängengeblieben und der Weg zurück zu Verstand wird ein weiter sein. Und ersteren kannte ich bis vor Kurzem gar nicht. Wenn ich vegan kochen will, frage ich gerne Attila Hildmann, wenn ich was über Viren wissen möchte, bleibe ich bei Christian Drosten. Und sollte ich das Bedürfnis nach einem Plausch mit einem Trottel haben, der fürchterliche Lieder singt, kontaktiere ich die Sonnenbrille. Jeder hat sein Spezialgebiet. Das ist das Schöne 2020. Jetzt lernen wir jeden Tag dazu. Was heute gilt, muss morgen nicht mehr die Latte sein. Ich vermute, das wird nicht das letzte Mal sein in dieser vernetzten, globalisierten Welt. Wer immer mehr Profit, in allen Ecken der Welt günstiger produzieren und jeden Ramschladen der Welt bereisen will, der fängt sich eben auch leichter koreanische Sackratten ein. So ist das leider, kann passieren. Es war ja lange Zeit Ruhe im Karton und wir konnten hier einen gepflegten Wohlstand genießen. Mit stabil Warmwasser, zwei Fernreisen im Jahr und Fleisch im Sonderangebot. Jetzt müssen wir einen Augenblick innehalten und mit der angezogenen Handbremse durch die Gegend schlittern. Ist vielleicht nicht schön, aber wir könnten auch bombardiert oder von einem Rudel wilder Hunde verfolgt werden. Das fände ich jetzt persönlich noch schlimmer. Aber was passiert? „Mallorca her, aber sofort!“, „Scheiß-Regierung“, „Disco-Recht ins Grundgesetz!“. Für alle ins Freundschaftsbuch mit schönster Schrift: Wir müssen unbedingt achtsam sein. Mit den Persönlichkeitsrechten, dem Verschmelzen von Arbeit und Privat und überhaupt. Da bin ich voll dabei! Aber es ist manchmal eine feine Linie zwischen Wachsamkeit und blitzsauberem Schwachsinn. Stellt die Hirne an! Ich verstehe nicht, warum als Feldversuch zwei Wochen vor den Ferien in Hessen die Grundschulen mit vollem Programm ohne Not geöffnet werden, während Würstel-Uli mit Mundschutz im Stadion hockt. An der frischen Luft und mit acht Meter Platz links und rechts.
Und noch was, weil Herzenssache und für alle, die das immer noch denken: Der freie Markt regelt am Ende einen großen Kackhaufen. Nämlich gar nichts. Immer wenn was schief läuft, schreit die Welt nach der Politik. Die soll sich allerdings schnell wieder vom Acker machen, wenn der Laden brummt. Und keinesfalls etwas verlangen. Weder veränderte Haltung, noch Geld und Einsicht schon mal gar nicht. Langsam nervt es gehörig!