Lieber Himmel, Amerika. Was ist denn bloß aus dir geworden? Frag’ ich mich, runzel’ die Stirn und hole die alte Bill-Haley-Platte meines Vaters aus dem Schrank. One, two, three o’Clock, four o’Clock, rock. Es ist nicht so, dass ich alles an dir liebte und mag. Ganz im Gegenteil. Ich mochte deine überheblichen Sportler bei den olympischen Spielen noch nie und die Ignoranz, mit der du dem Rest der Welt begegnet bist, erst recht nicht. Aber ich liebe deinen Garagen-Punkrock, deine Indie-Labels, deine Late-Night-Shows, deine Serien und vor allem deine schlauen Denker. Judith Butler, Richard Sennet, ihr habt Türen in meinem Kopf geöffnet. Du warst immer mein Sehnsuchtsort. Denn bei dir war immer was los. Warum weiß ich nicht, war meinem Empfinden nach aber so. Spektakuläre Canyons und laute Gitarren. Es kam früh über mich. Ich glaube, es ist ein Generationenthema. Die Jugend nach mir und von heute will zu Fuß nach Indonesien, Bolivien oder Nord-Korea. Kein Land zu weit oder zu dangerous. Ich wollte dagegen immer nur nach New York, New Orleans, Los Angeles. Ansonsten vielleicht noch nach Russland. Möglicherweise, weil ich ein Kind des Kalten Krieges bin und mein Großvater sich mitten im Gefecht in der Sowjetunion in eine Russin verliebte. Amerika und UdSSR. Rocky Balboa gegen Ivan Drago. Zwei Pole in einer Welt, die noch übersichtlich schien. Mehr brauchte ich nicht. Sonst reicht es mir, durch das restliche Europa zu tuckern.
Bis heute. Jetzt hast du Donald Trump als Präsident und formierst seit neuestem Proud Boys als Bürgerwehr. Meine Güte, mir stockt der Atem. Erst Ku-Klux-Klan, jetzt Vollidioten, die kürzlich noch Hipster-Magazine veröffentlichten. Versteh’ einer die Welt und so manche Deppen. In vier Jahren haben es die klugen Köpfe in deinem Land nicht geschafft, einen halbwegs frischen Kandidaten ins Rennen ums still mächtigste Amt der Welt zu schicken. Das bereitet mir fast so viel Kopfzerbrechen wie der irre Donald. 48 Monate hatten die Demokraten Zeit, eine Alternative zu finden und alles, was ihnen in den Sinn kam, ist ein 77 Jahre alter, weißer Mann. Das musst du auch erst mal bringen. So ein bisschen erinnert es mich an Fußball-Deutschland nach Berti Vogts. Da fiel dem DFB tatsächlich auch niemand besseres als Erich Ribbeck ein. Erich Ribbeck und Joe Biden. Wer hätte diese Parallele einmal vermutet. Ich zumindest nicht. Ich will ja nicht ausschließen, dass jemand mit Ende 70 noch ordentlich auf die Pauke hauen kann. Aber sollte Biden Präsident werden, dann ist er am Ende seiner Amtszeit 82 Jahre alt. Mon Dieu! Lebenserfahrung hin, Altersweisheit her: Mein Vater wurde dieses Jahr 80. Er ist immer noch ein charmanter Hund, aber Amerika regieren? Puh. Ich weiß ja nicht. Zumindest ich gebe mit 80 freiwillig meinen Führerschein ab. Hand drauf! Gab es keine Alternative? Irgendeinen Schauspieler oder Sportler? Die Republikaner haben es doch mit Reagan vorgemacht. Statt Cowboy vielleicht ein Basketballer oder Taylor Swift wegen mir. Alle, die halbwegs ihre Tassen im Schrank haben, wollen doch keine weiteren vier Jahre Trump. Doch die Demokraten haben Sanders und Biden in die Bahn geworfen. Da ist ja manche Schafkopfrunde im Altenheim im Durchschnitt jünger besetzt. Ja rutsch mir doch den Buckel runter! Das wäre quasi so, als würde die SPD Gerhard Schröder oder die CSU Edmund-Äh-Stoiber reaktivieren.
Dieses Heft und dieser Beitrag erscheinen fast zeitgleich zur US-Wahl. Ich habe gerade keinen blassen Schimmer, wie die Kiste ausgeht. Ein richtig gutes Gefühl habe ich nicht. Entweder es geht alles den Bach runter oder ein rüstiger Rentner muss das ganze Land neu befrieden. Good Luck! Amerika, ich mach’ mir ernsthafte Sorgen.