Wo fang ich denn diesen Monat an? Mir schwirrt noch ganz der Kopf. Vom Sport, von Paris, von diesen famosen Olympischen Spielen. Lady Gaga am Ufer und französischer Metal von Gojira vom Hausbalkon. Völlig irre ging es gleich los. Und als der leuchtende Gaul eine halbe Stunde über die Seine ritt, Céline Dion vom Turm sang, Carl Lewis mit der Fackel in der Hand im Schnellboot dem Regen trotzte und zu guter Letzt sogar noch das Olympische Feuer zu fliegen begann, war es endgültig um mich geschehen. Dann kam Beachvolleyball unterm Eiffelturm, Reiten in Versailles, Segeln vor Marseille und plötzlich spürte ich europäischen Stolz in meiner Brust. Mit dieser Haltung wurden es fortan auch ein bisschen meine Spiele. Allez les Bleus und fuck you US-Showbiz. Rutsch mir den Buckel runter Russland und China und blas mir den Schuh auf, Gigantismus und Massenkonformität von Peking und Sotschi. So viel Geschichte und Stories, so viel Dramaturgie, Liebe und Leidenschaft. Das ist das gute alte Europa. Ok. Ich bin ehrlich. Bislang waren die Spiele von 1984 in Los Angeles mein Tournament des Herzens. Zisch, Zosch. Da flog der Raketenmann quer durchs Stadion und später Ulrike Meyfarth und Dietmar Mögenburg über die Latten. Doppel-Gold im Hochsprung. Heissa. Das waren Zeiten. Dazu der Albatros aus Offenbach und der bärenstarke Jürgen Hingsen. Der Mann, der nur vom Apollo Creed des Zehnkampfs, Daley Thompson, oder von sich selbst zu bezwingen war. Da saß ich mit elf Jahren vor der Glotzkiste und rieb mir die Augen. Doch jetzt, 40 Jahre später: Paris, Paris! Gleich geh ich los und kauf mir ein Baguette und dazu einen Camembert. Allein weil ich so gerne an die Spiele denke. Doch so schön der französische Rausch, so nüchtern die deutsche Bilanz. Europa hin, Europa her. Gerade mal 32 Medaillen. Davon allein Fünf für die Gäule reicher Leute. Und von Mögenburg und Meyfarth weit und breit nichts mehr zu sehen. Nur fürs Protokoll: Ausnahmen bestätigen leider die Regel. Frisch wiedervereinigt holte das Team D 1992 in Barcelona 82 Medaillen, 2012 waren es nur noch 44 und dieses Jahr eben nochmal 12 weniger. Das nenn ich mal einen blitzsauberen Abwärtstrend. Wenn das so weitergeht, liegen wir sogar bald hinter Belgien oder Österreich. Ich spare die detaillierte Ursachenforschung, denn die ist allseits bekannt. Eine anachronistische Sportförderung, unterbezahlte Trainer, die Excel-Tabellen füllen müssen, statt gemeinsam neue Trainingsmethoden zu entwerfen und eine Jugend die lieber auf TikTok statt auf den Tartanbahnen abhängt. Wie aber auch. Sind doch die Sportstätten landauf landab am Arsch. Dazu finden wir Sportunterricht wie sportlichen Wettbewerb auch nicht mehr ganz so dolle und mindestens die Hälfte der Athleten trainiert mittlerweile sonst wo, nur nicht mehr hier. Ach ja. Wo ist eigentlich der deutsche Achter? Und ist die Kaderschmiede Tauberbischofsheim abgebrannt? Oder weiß jemand, was mit unseren ganzen Degen-, Säbel- und Florettvirtuosen passiert ist? Remember Emil Beck. Ohne Fleiß kein Preis. Schnell hol ich mir ein Vitamalz aus dem Kühlschrank und stell den Rotwein beiseite. Doch leider nix da von wegen Fleiß und Preis. Von 20.000 Euro Prämie bleiben wohl nach Abzug aller Kosten, Steuern und Kram gerade mal um die 5.000 Euro im Geldbeutel der Sieger. Die deutsche Gründlichkeit räumt auf. Jaja. Ich weiß. In der Analyse sind wir immer ganz vorne dabei. Nur das Ändern fällt uns leider schwer. Doch jetzt habe ich einen Traum und eine Vision. Wir bewerben uns. Ganz in echt. So realmäßig. 2040. Dann legen wir einfach gleich los und verlieren uns nicht in Bürokratie und Bedenken. Vergessen kurz die komplexen und manchmal hinderlichen föderalen Strukturen und rechnen nicht mit dickem Kopf schon vorher durch, ob sich das finanziell überhaupt lohnt. Sondern wir freuen uns auf den emotionalen Mehrwert, den so ein Ereignis mit sich bringt. Olympia ist die Tür, der Weg raus aus der deutschen Verzagtheit und der Tristesse. Ich bin mir plötzlich sicher. Die Menschen brauchen ein Ziel. Genau so läuft der Hase! Auf geht’s!
Geht aufs Haus 9|2024
Ralph Rußmann hat einen Traum