HIMMELREICH DER NACHTSCHWÄRMER
Man munkelt: Aschaffenburg hat die höchste Kneipendichte in ganz Bayern. Manch einer behauptet sogar, dass keine deutsche Stadt ein größeres gastronomisches Angebot pro Kopf hat. So oder so kann der Ascheberscher sich problemlos im Bermudadreieck zwischen Herstallturm, Sandkirche und Freihofplatz verlustieren, bis er zu nächtlicher Stunde erkennen muss, dass sich die Gehsteige hochzuklappen beginnen und der einzig wahre Weg die Würzburger Straße hinaufführt …
Zufällig versammeln sich hier die wenigsten Gäste – zu Annerose Vollmer schwärmen die Nachteulen und Ausgehfreudigen stets gezielt. Liegt ja schließlich auch selten auf dem Weg, das Dreimädelhaus in der Gentilstraße 11, die kurz vor der Berliner Allee links von der Würzburger Straße abzweigt. Dass demnach nicht Hinz und Kunz beim „Anneröschen“ vorbeischauen, hat nur Gutes: Das Individuum, das die Eingangstüre zum gemütlichen Dreimädelhaus kennt, weiß sich hier unter Gleichgesinnten. Kann sich darauf verlassen, dass es hier das bekommt, was es sich wünscht. Dass kein anonymes und schnell rotierendes Bedienungspersonal herumschwirrt. Nein, hier serviert die Gastgeberin selbst – und das seit 1976 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Erich Seiler. Den nennt Annerose Vollmer liebevoll ihren „Kellermeister“, da er „zuständig“ für Wein, Champagner und andere edle Tropfen ist. Er war es auch, der gemeinsam mit ihr das von ihren Eltern 1949 eröffnete einstige Künstlerlokal 1976 renovierte und zu dem machte, was es heute ist. Damals kam Annerose Vollmer nach Aschaffenburg zurück, um ihre Mutter zu pflegen. Kehrte dem schillernden Leben im Rampenlicht nach 23 Jahren an der Seite von Ernest Montego den Rücken. Mit jenem als Ernst Kuhn geborenen Jongleur war sie als 18-Jährige in die große, weite Welt aufgebrochen: Eine einzigartige internationale Showkarriere folgte. Beide hatten sich bereits im Kindergarten kennengelernt, danach jedoch aus den Augen verloren. In einer Ballettschule kam es zum Wiedersehen: Gerade rechtzeitig, denn Montego war auf der Suche nach einer Assistentin – und Annerose Vollmer war abenteuerlustig und neugierig genug, um mitzukommen … Das Duo eroberte alle Nationen: Es trat auf allen Kontinenten in allen bedeutenden Varieté- und Zirkusshows auf, war umjubelter Star in allen namhaften Varietés Nordamerikas und sogar Gast in Amerikas größter Fernsehsendung, der „Ed Sullivan Show“.
New York. Las Vegas. Aschaffenburg!
Jene 23 Jahre seien für sie eine unbezahlbare Zeit gewesen: „Die haben mich geformt und zu Toleranz und Offenheit erzogen“, erklärt die Gastgeberin. Heimweh hatte sie auf Reisen trotzdem immer. Aber eine baldige Rückkehr in die geliebte Heimatstadt kam für sie nicht in Frage, galt es doch, der Großmutter das Gegenteil zu beweisen: „Sie gab mir 50 Mark, mit dem Kommentar, dass ich nicht mehr brauche, weil ich sowieso bald wieder daheim sein werde.“ Allerdings folgten vorerst Auftritte in der New Yorker Radio City Music Hall oder mit Siegfried und Roy in Las Vegas … Doch als Mutter Vollmer ihre jüngste Tochter brauchte, war sie zur Stelle: Hängte die Artistik an den Nagel, kümmerte sich um ihre Mutter und übernahm zudem die Gaststätte im Elternhaus, das der Vater 1932 erbaut hatte: „Der Papi war Künstler und Lehrer an der Aschaffenburger Steinmetzschule und machte seinen Professor am Frankfurter Städel.“ Kein Wunder also, dass er im eigenen Haus für sich ein Atelier integrierte. Doch der Zweite Weltkrieg nahte. Aus der Kriegsgefangenschaft kehrte „Papi“ Vollmer erst 1947 zurück.
Da in den Nachkriegsjahren alle Kunstschulen geschlossen waren, mietete die Familie für den Vater ein Atelier in der Herrleinstraße an, um in der hauseigenen Künstlerwerkstatt ein Lokal betreiben zu können. Der Name lag angesichts der drei Töchter auf der Hand. Und die Gäste, ausgehungert nach unbeschwerter Freizeitgestaltung, strömten zu den Vollmers. Für viele der in Aschaffenburg stationierten Amerikaner lag die Gentilstraße zudem in unmittelbarer Nähe. Damals hatte das Dreimädelhaus auch einen Biergarten, in dem Annerose Vollmer gerne bediente. Bis sie 1953 Montego wieder traf …
Legendär: chinesische Nudelsuppe
Heute freut sie sich, in ihrer Heimatstadt und in ihrem Geburtshaus zu leben: „In Aschaffenburg hat sich mein Lebenskreis geschlossen.“ Motiviert und voller Elan öffnet sie hier Abend für Abend ihr Lokal. Und das kann dann auch mal eine längere Nacht werden – nicht selten verlässt der letzte Gast das Dreimädelhaus erst, wenn es draußen schon wieder hell wird … Dann schläft die Gastgeberin einfach länger, versorgt danach ihre Katzen, kauft ein („Mit dem Fahrrad – so bleibt man fit!“), kümmert sich um ihren privaten Haushalt, legt sich noch ein Stündchen hin und ist ab 20 Uhr wieder ganz für ihre Gäste da. Und die kommen nicht nur, um an einem Weinchen zu nippen: Anneroses scharfe chinesische Nudelsuppe ist legendär. Erfreut sich seit Jahren größter Beliebtheit. Zudem gibt es Chili con Carne, Kassler-Käse-Toast, Debrecziner mit Körnerbrot oder Chili Hot Dogs. Ein Blick in die Getränkekarte lohnt indes ebenfalls: Jene ist fast ein Fotoalbum. Eine Bibel voller Erinnerungen – wie auch die Wände, die Annerose Vollmer im Kreise bekannter Persönlichkeiten zeigen. Dass ihr Dreimädelhaus ein generationenübergreifendes Kultlokal zu sein scheint, ist ihr nicht wichtig. Die Gastgeberin mit Leib und Seele macht ihre „Sache einfach gerne“. Und nicht, weil sie muss. Während sie die Vorbereitungen für den Abend trifft, plant „Anneröschen“ auch gerne. Reisen. Ihre große Leidenschaft. Nach Madagaskar, Südamerika, Tasmanien oder „wieder nach Sri Lanka“ soll es gehen. Ziele in Deutschland reizen sie auch, aber „die haben ja noch Zeit“, schmunzelt sie. Irgendwann möchte sie auch wieder ihre Schwestern besuchen, die sieben Jahre ältere Dorothea – „Dodo“ genannt – lebt in San Francisco, die zwei Jahre ältere Iris in Florida. Ja, das Reisen, das liebt sie bis heute. Ansonsten hätte sie da noch ein Faible für Schmuck. Und für Stubentiger. Mit denen schmust sie sonntags dann besonders ausgiebig. Denn an Sonn- und Montagen müssen die Gäste auf einen Plausch mit der ehemaligen Artistin verzichten. Zwei Ruhetage sind es, die sie sich gönnt. Um sich zu erholen. „Außerdem kocht am Sonntag immer der Erich“, freut sie sich und wirbelt dabei durch den Gastraum, den sie nun für die ersten Nachtschwärmer herrichtet. Denn draußen legt sich bereits die Dunkelheit über Aschaffenburg …