In einer großen Werkschau werden zahlreiche bisher selten öffentlich gezeigte Gemälde des Leipziger Malers Erich Kissing ausgestellt. Im Zentrum steht dabei die Bedeutung des Modells Kerstin, mit dem sowohl Kissing und einige andere Künstler häufig gearbeitet haben. Eine Ode an Künstler und Muse gleichermaßen. Deshalb werden auch die Arbeiten weiterer Leipziger Künstler wie Michael Triegel, Leif Borges und Dietrich Wenzel und die Fotografen Günter Rössler und Stefan Hoyer gezeigt, um die Verbindung, die Kerstin zwischen ihnen allen herstellt, zu analysieren und verdeutlichen.
Erich Kissing studierte Malerei an der renommierten Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer. Schon im Grundschulalter erkannte einer seiner Lehrer sein großes Talent und veranlasste, dass Kissing Privatunterricht bei den Hauschilds nahm. Sein Gesamtwerk umfasst aktuell knapp 70 Gemälde und ist in Anbetracht dessen, dass er seit mehr als 50 Jahren als freischaffender Künstler tätig ist, überschaubar. Maßgebliche Ursache ist, dass seine Bilder in aufwendiger, feinmalerischer Technik entstehen, teilweise müssen Lasuren über Wochen hinweg trocknen und die Fertigstellung eines einzigen Werkes bei Kissing deshalb oft mehrere Jahre in Anspruch nimmt.
Seine Malereien muten meist surreal an, zeigen Mondlandungen, fantastische Flugapparate, Mischwesen wie Kentauren. Sie sind demnach zwar dem Symbolismus zuzurechnen, ohne jedoch das typisch Düstere, Sündhafte und Religiöse. Stattdessen setzt er sich häufig mit der Beziehung zwischen Mann und Frau auseinander. So werden in seinen Werken etwa Kentauren nicht als wüste, lüsterne antike Geschöpfe dargestellt, sondern vielmehr als freundlich und umsorgend. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Ausstellung auf der langjährigen Beziehung zwischen Kissing und Kerstin, die in mehr als 20 seiner Werke zu sehen ist und seit 1998 unverkennbar sein Lieblingsmodell ist. Ende der 90er stand sie für das Gemälde „Das Urteil des E.K.“ das erste Mal Modell, als einer der drei weiblichen Kentauren. In den folgenden Jahren verewigt sie der Künstler immer wieder auf Leinwand, zuletzt im vergangenen Jahr in „Kerstin“.

© Erich Kissing
Erich-Kissing-und-Kerstin
Erich Kissing und Kerstin im Atelier, 1998
Die Geschichte der weiblichen Muse als Quelle der Inspiration geht auf die antike Vorstellung zurück, dass Ideen nicht vom Künstler stammen, sondern von den Göttern oder den göttlichen Musen eingegeben werden. Historisch reichen die Beziehungen zwischen Kunstschaffenden und Modell von erotischer Muse über Maßstab der eigenen Ästhetik bis hin zur Lebensgefährtin. Kissing und Kerstin verbindet bis heute ein freundschaftliches Verhältnis. Das aber gleich mehrere Künstler eine Muse teilen, lässt sich nicht anders beschreiben als ein außergewöhnliches Phänomen. Kerstin war und ist für zahlreiche Maler und Fotografen Inspiration, Werkzeug, Bildgegenstand zugleich. Der DDR-Aktfotograf Günter Rössler hat sie abgelichtet und auch „Papstmaler“ Michael Triegel diente sie als Modell. Schon seit ihrem Studium ist sie immer wieder Künstlermodell, vor allem für viele Künstler aus Leipzig. Doch nicht nur die Optik der Frau mit ihrer Idealfigur und ihrem schönen und zeitlosen Gesicht hat diese Sonderstellung, die sie einnimmt, befeuert. Vielmehr ist es die Konstitution in Leipzig und der dort ausgebildeten Künstler. Die traditionelle Ausbildung an der Kunsthochschule, die viele von ihnen erfahren haben, mit Fokus auf gegenständliche, metaphorisch-fabulierende Malerei, bildet den Grundstein für die Bedeutung und den Beitrag, den Kerstin für die örtliche Kunstentwicklung geleistet hat.
Wie divers und subjektiv der Blick der Künstler ist, wird deutlich, wenn man die unterschiedlichen Werke betrachtet. So malt Michael Triegel Kerstin als kühle Persephone auf einem einfachen Holzthron, während Kissing sie häufig in seine Kentaurenbilder einarbeitet. Damit wird ein spannungsvolles Netz erzeugt zwischen all diesen unterschiedlichen Künstlern und Kerstin als Muse im Zentrum dessen. Eben diesem bivariaten Spannungsfeld nimmt sich die Ausstellung in der Kunsthalle Jesuitenkirche an.