Heizen oder Essen? – in allen möglichen Kanälen der Medienlandschaft tauchte in den vergangenen Wochen gerne mal diese sehr zusammengeraffte Fragestellung auf, wenn es darum ging, die Ängste der Bevölkerung in der aktuellen Zeit in drei Worte zu fassen. Klar, trotz massiv gestiegener Energiekosten, Rekordinflation und einem Krieg vor der Haustür, stellt sich diese essenzielle Frage für die allermeisten von uns glücklicherweise nicht wirklich.
Auf der anderen Seite jedoch gibt es auch im reichen Deutschland, im konjunkturstarken Bayern, im lebenswerten Unterfranken und unserer schönen Kleinstadt Mitmenschen, die sich sehr wohl genau diese Frage jeden Tag stellen müssen. Ohne Übertreibung, ohne Stammtischattitüde.
Laut Statistischem Bundesamt waren 2021 nämlich rund 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet. Das entspricht etwa 15,8 % der Gesamtbevölkerung. Und das war noch vor explodierenden Energiepreisen. Vor allem Erwerbslose, Alleinerziehende und Singles leben anteilig an ihrer Gesellschaftsgruppe besonders häufig unter der Armutsgrenze, die durch ein Einkommen mit weniger als 60 % des Mittelwerts der Gesamtbevölkerung definiert wird.
Und genau für diese Mitbürger, die sich tatsächlich jeden Tag selbst fragen müssen, ob sie an den Kühlschrank gehen oder die Heizung aufdrehen, hat sich in den vergangenen Wochen eine schlagkräftige Initiative formiert, die gezielte Hilfe organisiert: Unter dem Motto „Aschaffenburgs Pipeline der Solidarität“ haben Mitinitiator Mike Ries, der Verein Grenzenlos und die Stadt Aschaffenburg jüngst ihr Projekt „Help Stream 1“ vorgestellt.
Die Idee ist so einfach wie genial: Wer die angekündigte Einmalzahlung der Bundesregierung als Energiekostenzuschuss nicht wirklich benötigt, kann sie (zum Teil oder komplett) an „Help Stream 1“ spenden. Beim Grenzenlos e. V. fließt das Spendengeld ohne Bürokratie und ohne jegliche Abzüge dann in Lebensmittelzukäufe für wirklich Bedürftige – einfach, unbürokratisch, menschlich und nah. Zweimal wöchentlich können diese dann im Kaufhaus zum symbolischen Preis von 1 Euro pro Warenkorb ihre Lebenshaltungskosten verringern und haben dadurch mehr Geld zur Deckung der gestiegenen Energiekosten übrig. Eine Pipeline in ihrer besten Form also. Wir sind restlos begeistert, weswegen wir mit Mike Ries über die Idee, die Motivation und den tatsächlichen Bedarf in Aschaffenburg gesprochen haben.
FRIZZ Das Magazin: Lieber Mike, mit dem Grenzenlos e. V., der Stadt Aschaffenburg, der Agentur Rampe und Ihnen hat sich eine schlagkräftige Task-Force gefunden, um dieses wunderbare Projekt zu realisieren. Wer hatte die initiale Idee zu dieser speziellen Form der direkten Hilfe?
Mike Ries: Die Idee entstand auf einer gemeinsamen Autofahrt mit meiner Frau: Wir haben Nachrichten gehört, die Diskussionen um die Entlastung für alle mitbekommen, einander angeschaut und uns die Frage gestellt „brauchen das andere nicht wesentlich dringender als wir?“ Die Antwort lag auf der Hand. Und dann kam die Idee, dass es sicher noch viele Mitbürger geben müsste, denen es ähnlich geht wie uns. Und dass man diese potenziellen Beiträge bündeln müsste. Aus der Gießkanne wieder einen Trichter machen, sozusagen. Und dafür zu sorgen, dass die finanziellen Mittel nicht irgendwo landen, sondern da, wo man sie braucht. Nämlich direkt vor unserer Haustüre.
Wie lief der Prozess von der Idee bis zur Umsetzung ab?
Vom bloßen Gedanken zum ersten Schritt war es nicht weit. Wir haben überlegt, wer der richtige Partner für uns sein könnte und dann über Freunde Kontakt zu Harry Kimmich von Grenzenlos aufgenommen. Ich habe die Idee konkret ausformuliert, meine Art-Direktorin Susa Niemann von der Agentur Rampe (www.rampe.de) hat mich sofort bei der Gestaltung unterstützt, jeder hat sein persönliches Netzwerk aktiviert und dann ging es ohne Bürokratie und Zeitverluste direkt los. Übrigens auch mit Unterstützung der Stadt Aschaffenburg, die uns sofort eine Bühne gegeben hat. Meine erste kleine Präsentation datiert übrigens vom 17.10., in nicht mal vier Wochen ist das Ganze also ins Rollen gekommen.
Gibt es ähnliche Initiativen auch in anderen Städten oder geht Aschaffenburg hier mit gutem Beispiel voran?
Die Stadt Aschaffenburg geht auf jeden Fall mit gutem Beispiel voran, denn eigentlich könnten ja überall in Deutschland solche Initiativen entstehen. Inzwischen habe ich erfahren, dass Bielefeld und die Stadt Frankfurt ähnliche Aktionen am Start haben, allerdings mit einem anderen System, weil dort die Kommunen über ihre Quartiers-Manager in die Verteilung eingebunden sind. Das haben wir in Aschaffenburg schlanker gelöst, aber das Ganze ist ja kein Wettkampf. Wir freuen uns über jeden, der soziales Engagement in die Breite trägt und teilen dementsprechend unsere Erfahrungen auch gerne.

Help Stream
Warum hat sich das Projektteam dazu entschieden, die gespendeten Gelder/Mittel in Form von Lebensmittelkäufen für das Kaufhaus Grenzenlos in „Hilfe zu verwandeln“ und nicht beispielsweise direkt monetäre Zuschüsse aus dem Spendentopf an die Bedürftigen zu zahlen?
Ursprünglich hatten wir tatsächlich den Gedanken, das Energiegeld direkt in Form von Zuschüssen weiterzugeben. Das eröffnet aber mehrere Problemfelder: Wer ist eigentlich bedürftig? Wie finden wir die Leute? Wer entscheidet über die Verteilung der Gelder? Wie halten wir organisatorischen Aufwand klein, damit das Geld wirklich 1:1 als Hilfe ankommt? Wie können wir den Spendern wenigstens mit einer Spendenquittung danken, ohne eine gemeinnützige Organisation im Hintergrund? Am einfachsten erschien es uns also, auf bewährte Strukturen aufzubauen. Bei Grenzenlos haben alle Berechtigten ihre Bedürftigkeit über den Grenzenlos-Pass nachgewiesen und die Hilfe steht Menschen ohne Ansehen der Person, des Geschlechts, der Religion, der Nationalität, der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung zur Verfügung. Zudem hat der Verein selbst durch seine Bürgernähe und Integrität ein hohes Ansehen in der Stadtgemeinschaft. Nun wandeln wir also das Geld in Lebensmittel um, denn letztlich ist es egal, an welcher Stelle wir die Lebenshaltungskosten entlasten, es bleibt auf jeden Fall mehr Geld für Strom und Gas übrig.
Armut ist für viele von uns „ganz weit weg“, obwohl sie, wie vorhin schon erwähnt, auch direkt vor der Haustür Realität ist. Können Sie uns einen Einblick geben, wieviele Mitmenschen allein in Aschaffenburg auf Unterstützung angewiesen sind?
Insgesamt versorgt Grenzenlos aktuell 3.214 Bedarfsgemeinschaften mit Lebensmitteln – dahinter stehen 7.735 Menschen. Die Zahl steigt aber rapide an – wir rechnen mit bis zu 3.600 Grenzenlos-Pässen und damit wären auch die Kapazitätsgrenzen von Grenzenlos erreicht. Was wir auf jeden Fall vermeiden wollen, ist ein Aufnahmestopp wie in anderen Städten oder die Verkürzung der Einkaufsmöglichkeiten. Deshalb hilft nicht nur jede eingesparte Kilowattstunde, sondern auch jeder gespendete Euro.
Seit der gemeinsamen Presserunde sind bereits einige Tage vergangen – wie war der erste Rücklauf auf die „Pipeline der Solidarität“?
Bisher dürfen wir uns schon für Spenden von über 8.000 Euro (Stand Mitte November) bedanken. Und wir hoffen natürlich, dass die Pipeline der Hilfe noch nicht so schnell versiegt.
Unsere Gesellschaft wurde in den letzten Monaten durch zahlreiche Umstände und Entwicklungen in verschiedener Art und Weise herausgefordert. Wie schätzen Sie (gerade auch durch ihre wertvolle Arbeit an diesem Projekt) die aktuelle Bereitschaft unserer Mitmenschen ein, sich solidarisch zu zeigen?
Die Reaktionen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis sind überwältigend positiv. Ich glaube an die Bereitschaft der Menschen zu helfen, vor allem dann, wenn sie selbst den Effekt vor Ort sehen und nachvollziehen können. Ganz im Sinne des Mottos von Grenzenlos: „Die Welt können wir nicht verändern. Aber unsere Stadt.“ (Und verändern wir damit nicht auch die Welt ein kleines Stück?)
Eine Frage an Sie ganz persönlich: Woraus speisen Sie ihre Motivation, diese besondere Art der solidarischen Hilfe zu realisieren? Warum ist Ihnen das Helfen so wichtig?
Die Frage haben wir uns eigentlich andersrum gestellt: Warum helfen wir nicht? Wir haben glücklicherweise die Möglichkeiten, wir haben Knowhow und die Kontakte, wir glauben an die Kraft von Gemeinschaft und wir hatten nun mal eine Idee, die ja nicht wieder aus unseren Köpfen verschwindet, bevor sie realisiert ist. Das Risiko ist null, die Investition ist praktisch null, aber der Effekt hoffentlich groß. Das Schlimmste, was uns hätte passieren können, wäre gewesen, es nicht versucht zu haben.
Helfen kann so einfach sein. Macht mit!