©Mathias-Bothor
Selig
Man kann es getrost als kleine Sensation bezeichnen, dass eine der besten deutschen Rockbands der letzten Dekaden nach mehr als 20 Jahren mit ihrem aktuellen Album „Kashmir Karma“ in den Colos-Saal zurückkehrt. Das eigentliche Wunder aber ist, dass es Selig – nach zehn Jahren der Trennung – seit 2008 überhaupt wieder gibt.
Im Herbst 2016 stand die Zukunft der nach dem Ausstieg von Keyboarder Malte Neumann zum Quartett geschrumpften Band dann erneut auf Messers Schneide. In dieser Situation beschlossen Jan Plewka, Christian Neander, Leo Schmidthals und Stephan „Stoppel“ Eggert, ein paar Tage in einem Haus an der schwedischen Westküste zu verbringen, um in der Abgeschiedenheit Demos aufzunehmen. „Das war die Woche der Wahrheit“, erinnert sich Sänger Plewka. „In Gesprächen mit Freunden habe ich immer gesagt: ‚In Schweden wird sich entscheiden, ob es die Band weiterhin gibt oder nicht.‘“
Aber schon am ersten Tag wich die Anspannung. Am Abend hatten Selig ein Lied fix und fertig: Die elegische Ballade „Wintertag“ wurde an jenem Tag komplett komponiert, getextet und aufgenommen. Das war der Startschuss für „Kashmir Karma“. Fünfmal fuhren Selig für jeweils zehn Tage nach Schweden und erlebten dort den Wechsel der Jahreszeiten, parallel entstanden die Songs für das Album. Dessen Titel ist eine Reminiszenz an die Gründungstage der Band. Denn auf der Suche nach einem Namen stand „Kashmir Karma“ monatelang ganz oben auf der Liste, ehe es schließlich „Selig“ wurde.
Bevor die Truppe im Colos-Saal zu erleben ist, hat FRIZZ Das Magazin mit Schlagzeuger Stephan Eggert (oben rechts) über die wechselvolle Bandgeschichte, Freundschaft und das aktuelle Album gesprochen.
FRIZZ Das Magazin: Was ist der Unterschied zwischen Selig vor dem Split 1999 und Selig nach der Reunion 2008?
Stephan Eggert: Unser Split war ja eigentlich schon nach den Aufnahmen zu „Blender“. Zehn Jahre später passierte das, was keiner von uns für möglich gehalten hätte. Wir haben die absolut richtige Entscheidung getroffen, unsere Geschichte fortzusetzen. Wir haben genauso viel Spaß wie in den 90ern, können ihn jetzt aber viel mehr genießen.
Und vor „Kashmir Karma“: Welches „Wunder“ ist während eures ersten Trips nach Schweden passiert?
Es war im November 2016 tatsächlich die Frage, ob wir eventuell wieder in eine längere Pause eintreten oder eben doch ein siebtes Album aufnehmen würden. Als wir in Schweden unsere ersten gemeinsamen Töne in dieser sehr stimulierenden Umgebung spielten, war die Entscheidung klar: We go on!
Ist Schweden der Rückzugsort, um die Egos der Protagonisten auf Normalmaß einzudampfen?
Schweden war für uns zunächst mal der ideale Rückzugsort, um uns auf unsere Band und neue Ideen zu konzentrieren. Dabei wollten wir aber kein Normalmaß erlangen, sondern uns in ausgedehnten Jamsessions in höchste Höhen katapultieren. Die schwedische Abgeschiedenheit hat es ermöglicht, den Fokus absolut auf unsere Musik und unseren Sound zu legen.
Kann es sein, dass ihr gerade so viel Spaß wie noch nie an der Arbeit habt? Es klingt zumindest auf der Platte und bei euren Konzerten so …
Genauso ist es! Die Arbeit an unserem aktuellen Album war unglaublich harmonisch. Ohne jeglichen Druck von außen konnten wir einfach unserer Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Dabei haben wir uns gegenseitig sehr viel Freude bereitet und konnten es deshalb kaum erwarten, die neuen Songs auf die Bühne zu bringen – es sind für uns echte Live-Perlen geworden. Die tolle Reaktion unseres Publikums hat uns deshalb auch wahnsinnig gefreut.
Herrscht bei Selig eigentlich Demokratie?
Demokratie herrschte schon vor „Kashmir Karma“. Unsere 50 Tage in Schweden haben das noch mal ins Kommunenhafte gesteigert. Wir haben uns wie eine Hippie-WG gefühlt: Beim Frühstück die Tagesaufgaben verteilen, Aufnahmen vom Vortag analysieren, das Abendessen planen – es war eine ganz neue Erfahrung, 24/7 an unserer Band zu arbeiten.
Herrscht beim Songwriting auch Gleichberechtigung?
Jeder bringt sich mit ein. Wenn Christian alleine Gitarre spielt und etwas erklingt, das einen packt, müssen Leo und ich einfach sofort darauf einsteigen. Oder die anderen sagen: „Stoppel, gib uns einen Beat“ oder „Jan, welches Thema bewegt dich, lass deine Zeilen hören.“ Es beeinflusst sich alles gegenseitig, im Idealfall schwingen wir irgendwann gemeinsam und es ergibt sich eine Ehe aus Text und Musik.
Nachdem Malte die Band verlassen hat, ihr keinen anderen Keyboarder wolltet und bei Konzerten nach Computerproblemen auf Keyboardsamples verzichtet, geben Christians Gitarren zwangsläufig den Ton an und ihr seid deutlich rockiger geworden. Absicht?
Wir waren ja auch schon mit Malte irgendwie eine Gitarren-Rockband, aber ja: Sein Weggang hat auch musikalisch eine Lücke hinterlassen. Wir haben uns aber bewusst dafür entschieden, diese Reduktion als kreative Chance zu nutzen. Jeder von uns ist durch diese Beschränkung mehr denn je gefordert, noch mehr beziehungsweise alles zu geben.
Ihr habt so ziemlich alle Rockstarklischees bedient. Und jetzt? Vegetarier oder Veganer? Gesunde, spirituelle, cleane, nüchterne Familienväter? Kam mit dem Alter die Läuterung?
Mit 25 haben wir absolut kein Klischee bedient, sondern es einfach genossen, Selig zu sein. Natürlich haben sich mittlerweile unsere Lebensumstände geändert – Familie, Hauskredite, gesundes Essen, etc. Aber für unsere Kunst, die Musik, brennen wir noch genauso wie wir es vor 25 Jahren taten.
Selig haben mit die schönsten Liebeslieder auf Deutsch geschrieben, die heute noch bewegen, weil sie an Liebesglück oder aber auch an Verlust und Schmerz erinnern. Was empfindet man, wenn man Lieder für die Ewigkeit wie „Sie hat geschrien“ oder „Bruderlos“ geschrieben hat?
Oder „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, das auf vielen Hochzeiten gespielt wird. Oder „Wir werden uns wiedersehen“, das oft auf Trauerfeiern zu hören ist. Oder „Ohne dich“, das viele Leute mit ihrer ersten gescheiterten Liebesbeziehung verbinden. Man hat keinen Einfluss darauf, was diese Songs für Menschen bedeuten, aber es erfüllt uns mit Freude, dass unsere Lieder eine Relevanz für viele Leute haben. Der schnelle Nr.1-Hit blieb uns bisher ja versagt, aber mit Growern, die zu Evergreens werden, sind wir auch sehr, sehr happy.
Hörst du eure Songs im Zweifel lieber aus dem Lautsprecher im Supermarkt oder in einem Teaser im Privatfernsehen?
„Ohne dich“ wurde bei „Sing meinen Song“, „DSDS“ und „The Voice“ interpretiert und im Supermarkt habe ich schon „Alles auf einmal“ gehört. Das ist alles okay, weil die Menschen so mitkriegen, dass es Selig überhaupt gibt.
FRIZZ Das Magazin dankt für das Gespräch!