Große Vorfreude in Aschaffenburg. Der Ministerpräsident hat sich zum Frühschoppen im Fasanerie-Biergarten angesagt. Doch bei den Vorbereitungen zum großen Festtag taucht im Aschaffenburger Park immer wieder ein mysteriöser Fremder auf, der ein seltsames Verhalten an den Tag legt.
Ein harmloser Bürger? Ein Flüchtling auf der Suche nach Zerstreuung? Oder ist ein Anschlag auf den Ministerpräsidenten geplant? Die Organisatoren stehen vor einem Rätsel und schwanken zwischen Hoffen und Bangen vor dem großen Biergarten-Showdown.
Ich sah ihn das erste Mal bei dem Duell.
Der Wald war feucht. Nebel hing in den Wipfeln. Die Luft roch trotz des Sommers nach Herbst und Erde. Schreie tönten zwischen den Zweigen. Leises Stöhnen mischte sich mit dem Windgeflüster der Kronen. Vereinzeltes Gelächter würzte das Rauschen. Die Friedlichkeit der Fasanerie war schon lange dahin. Die Rückkehr des Friedens würde wohl noch eine Weile dauern. Ich war zu spät.
Ich rannte fast über den großen Platz neben dem Forstgebäude der Fasanerie. Wie immer hatte mich irgendetwas aufgehalten. Oder irgendjemand. Wie immer musste dieses und jenes noch erledigt, diese Papiere abgezeichnet und jener Beamte gehört werden. Die Ankündigung, dass der wichtigste Mann Bayerns uns in Aschaffenburg die Ehre geben würde, hatte alle nervös gemacht.
Als ich von dem Platz nach rechts abbog, konnte ich die Schreie schon sehen. Dutzende Soldaten lagen zwischen hohen Eichen und auf dem morastigen Boden und atmeten schwer. Wunden stachen in meine Augen. Zerkratzte Gesichter. Blutende Ärmel. Uniformen in Fetzen. Verbundene Glieder. Die Schlacht war wohl eben erst zu Ende gegangen. In den Mienen las ich Erschöpfung, aber auch Erleichterung. Tote sah ich keine. Wieder Auferstandene schon, aber wer konnte das schon genau sagen. Eine sinnlose Schlacht werden sie sagen. Ein sinnloses Sterben, gut zwei Wochen nach Königgrätz. Und doch lassen dreihundert Menschen hier ihr Leben. Preußen, Österreicher, Hessen. Sie opfern ihr Leben für einen Krieg, der schon vorbei ist.
Aber gibt es denn sinnvolles Sterben?
Nein, werden die Witwen sagen, deren Tränen die Felder nicht bestellen. Die Frauen, die jeden Abschied als den letzten erlitten und jedes Wiederkommen als ein Geschenk Gottes empfangen haben. Die immer zuhause warten und bangen. Es ist ein zermürbendes Warten. Jeder Brief kann das Ende sein Das Ende einer Liebe. Das Ende eines Lebens. Jeder Brief die letzte Seite eines Buches unter vielen. Jedes Nahen des Briefträgers wird zum Drahtseilakt auf dem Abgrund. Gefallen fürs Vaterland.
Nein, werden die Halbwaisen sagen. Die, die ihren Vater nie kennenlernen oder auf ewig vermissen werden. Die nicht wissen, was Krieg ist und wenn man es ihnen erklärt, gleich fragen, warum man denn so etwas machen sollte. Die nicht verstehen, was Ehre und Vaterland ist und warum man dafür sterben sollte. Die fühlen, dass es falsch ist.
Kinder an die Macht mit Armeen aus Gummibärchen.
Ich ließ die Soldaten rechts liegen und hastete weiter. Im Wald traf ich immer wieder auf erschöpfte Soldaten, die sich ausruhten, Bier tranken oder austraten. Kurz darauf traf ich auf den See. Nebelschwaden flogen darüber wie Miniwolken. Vereinzelte Enten trieben dumm auf dem Spiegel. Ein Reiher besetzte einen wie ein verkrüppelter Soldatenarm aus dem Wasser ragenden knorrigen Stamm. Von der mit dichten Laubbäumen bewachsenen Insel wehte Schnattern herüber. In der Nähe tupften Schildkrötenköpfe aus dem Wasser.
Für einen Moment war ich allein. Die Schlacht lag hinter mir und bis zu dem Duell jenseits des Sees waren es noch ein paar hundert Meter. Ich blieb stehen und atmete durch. Sammelte die Eindrücke des Tages, die Planungen, die Termine, die Papiere, die Gespräche und verbannte sie. Auch die Schlacht in der Fasanerie war erst einmal beendet. Darum würde ich mich später kümmern. Jetzt zählte allein das Duell.
Am Ende des Sees bog ich rechts ab und folgte dem Weg leicht bergauf. Und dann sah ich ihn. Diesen dunklen Mann einsam auf der großen Wiese rechts von mir stehend. Still. Beobachtend. Als ob er sich nicht näher herantrauen würde. Als ob er – wie man so sagt – gebührenden Abstand halten wollte. Er war zu weit weg. Ich sah nur den langen Rauschebart und den Hut. Mehr nicht. Aber wie er so dastand, hatte er etwas Provozierendes, obwohl er nichts tat. Er gehörte nicht hier hin und das störte.
Wenige Schritte später war ich auf einem kleinen Waldplatz angelangt. Das Duell stand kurz bevor. Ein Mann in dunklem Anzug, mit Zylinder und schwarzem Bart verkündete feierlich mit leicht rauchiger, gehemmter Stimme: „Wir schreiben heute den 6. September 1824. Der hier anwesende Forstcandidat Ferdinand Freiherr von Andrian-Werburg hat von dem ebenfalls anwesenden Studenten aus Würzburg, Herrn Johann Baptist Berg, aufgrund einer nicht näher zu erläuternden Begebenheit, die sich vor einigen Tagen in Würzburg zugetragen hat – und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch gewisse Bezüge zu einem Weibsbild aufweisen und in der Intensität der Auseinandersetzung durchaus auch durch die Intensität des Genusses diverser Würzburger Schoppen begründet sein könnte – Satisfaktion gefordert. Wir sind deshalb hier zusammengekommen, um das Duell an diesem Orte, in der Aschaffenburger Fasanerie, auszutragen. Ebenfalls anwesend sind die Sekundanten. Die gewählte Waffe ist der Säbel.“
Die grau und unscheinbar gekleideten jungen Männer trugen jeweils einen langen, glitzernden Säbel zu dem Zylinder-Mann und präsentiertem ihm die Waffen, als ob sie ein Geschenk überreichen wollten. Der Duell-Meister überprüfte die Säbel genau, fuhr mit den behandschuhten Fingern an den Schneiden entlang, wartete einen Moment und nickte. Die Sekundanten traten theatralisch drei Schritte zurück, vollzogen eine militärische Vierteldrehung und schritten dann in leidlichem Gleich- und Stechschritt auf ihre jeweiligen Freunde zu.
Ein junger Mann in akkurater Forstuniform mit glänzenden Knöpfen stand zur Linken des Duellmeisters. Der Schnurrbart war dünn. Viel war da noch nicht zu machen gewesen. Das Gesicht noch ein Junge. Die Haut noch glatt. In den Augen der Schrecken. In den scharfen Zügen die Disziplin, aber man sah trotzdem das unterdrückte Zittern, das Bereuen um den Jähzorn, das Verfluchen des Suffs, die Angst vor dem Tod.