© Till Benzin
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Erwähnten wir schon, dass das Busfahren im Aschaffenburger Stadtgebiet samstags kostenlos ist? Ja genau, da war doch was! In den letzten Monaten haben wir euch deswegen in unserer Serie mit auf eine Entdeckungsreise zu den städtischen Endpunkten einiger Buslinien bis nach Obernau, Strietwald, Schweinheim, Gailbach und zum Klinikum mitgenommen.
Um es mit Stefan Remmler zu sagen: Alles hat ein Ende, nur der Bus hat zwei oder so ähnlich. Auch diese Serie muss irgendwann einmal zu Ende gehen. Machen wir es kurz und schmerzlos. Unser heutiger Trip wird vorerst der letzte sein. Wir hoffen, dass ihr mittlerweile alle in der Lage seid, Busfahrpläne vernünftig zu lesen und dass es uns gelungen ist, dem einen oder anderen die Grenzen aufzuzeigen … also die unserer Stadt natürlich. Und klar, wenn eine Serie über Aschaffenburger Dead Ends zu Ende gehen muss, dann kann sie natürlich nur mit Linie 3 enden. Endstation Waldfriedhof! Doch halt. Unsere Lebenserfahrung lehrt uns ja, dass irgendwas immer ist und dass oft irgendwo ein Haken schlummert. So auch bei Linie 3. Die ist nämlich eine von denjenigen, bei denen zwar auf jedem Bus überall die 3 draufsteht, die Endstation aber je nach Abfahrtszeit variiert. Häh? Machen wir’s konkret: Linie 3 fährt vom Bussteig 7 des ROB zwischen 6.29 Uhr und 21.29 Uhr insgesamt stolze 44 Mal in den Stadtteil Leider. Manche Busse fahren aber nur bis zur Haltestelle Industriestraße, manche fahren nach der Haltestelle Waldfriedhof an der B26 noch weiter in Richtung Stockstadt. In ersterem Fall kommt man nie am Waldfriedhof an. (Auf lange Sicht natürlich schon. Die Schlagzeile könnte lauten: „Er wollte zum Friedhof, jetzt ist er tot: Fahrgast stirbt nach 327 Runden durch Leider an Schwindel und Verzweiflung“) Im zweiten Fall kann man zwar an der B26 aussteigen, aber man muss eben ausgeschlafen sein und aufpassen, dass man rechtzeitig den Abgang, also den Ausstieg macht. Sonst muss man bezahlen und fährt weiter nach Stockstadt, was für die allermeisten sicher keine sehr erstrebenswerte Situation ist. Lange Rede – kurzer Sinn: Wer samstags zum Waldfriedhof will und samstags morgens nicht unbedingt zu den Topfitten zählt, der sollte sicherheitshalber nur die Busse mit der Linie 3 nehmen, auf denen Waldfriedhof steht. Die fahren von 6.59 Uhr bis 18.59 Uhr jede Stunde um 1 vor voll. Das sind also immer noch 13 Möglichkeiten zum totesten aller Aschaffenburger Dead Ends zu gelangen.
Der Trip in die Hölle – oder ins Paradies – dauert schlanke 15 Minuten: Nach der Stadthalle und dem Löhergraben geht es über die Willigisbrücke bis zur Haltestelle Stadtbad. Danach ist die Grenze zu Leider leider erreicht (sorry, aber einmal muss dieser grenzwertige Kalauer schon sein). Wir passieren die Unterfrankenhalle. Warum und wer jemals auf Franken stolz war oder sein sollte, wird immer ein Rätsel bleiben, genauso wie dieser hirnrissige Trend, jede Feld-, Wald- und Wiesenturnhalle in der Provinz als Arena zu bezeichnen. Nach der Berufsschule folgen die Haltestellen Kerschensteinerstraße (hier geht’s übrigens zur IHK) und die Haltestelle Seidelstraße. Es geht – sozusagen als morbider Appetizer – an der Mauer des Leiderer Friedhofs entlang und dann, nach einer eleganten Links-Rechts-Kombination, in die Straße „Am Dreispitz“. Hier begegnen uns innerhalb von wenigen hundert Metern die Röntgen-Apotheke, die Sparkasse und die Raiffeisenbank (Geld und Stoff – was braucht man mehr?) und die Fahrschule ABfahrt. (Über vermeintlich kreativ-lustige Wortspielereien von Aschaffenburger Projekten, Initiativen oder Kleinunternehmen wollen wir uns hier nicht auslassen – das wäre ABer sowas von ABsolut ABnormal, ABartig, ja geradezu ABtörnend!).
Wir kurven noch ein wenig durchs Leiderer Wohngebiet, überqueren die Hafenbrücke und dann geht es rechts auf die B26, die zwischen Sportplätzen und Bahngeländen in Richtung Stockstadt führt, während rechts in der Ferne Verladekräne des Hafens wie Roboterarme gespenstisch an unserem Bruttosozialprodukt arbeiten. Auch die rund um das Volksbegehren zum Ausbau der B26 so berühmt gewordene Pappelallee begleitet uns, deren spitze schlanke Bäume wie warnende Zeigefinger in den Himmel ragen, als wollten sie sagen: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten, wird dem Klima schaden!“ Die Allee öffnet sich für einen Moment und der Bus biegt rechts ein in den „Stockstädter Weg“. Wenige Meter danach sind wir da: Die Haltestelle „Leider Waldfriedhof“. Auf dem Weg zum Haupteingang kommen wir an dem obligatorischen Blumengeschäft vorbei, in dessen Schaufenster der neueste Grabschmucktrend angepriesen wird: Engel mit LED-Beleuchtung! Da haben die Welt UND der Himmel sicher drauf gewartet!
Kurz darauf passieren wir den Haupteingang und der Blick fällt auf das in rotem Klinker gehaltene schlichte Friedhofsgebäude, fast fensterlos. Irgendwie stilvoll und angemessen – nur der Mülleimer neben dem Eingang mutet wie ein trauernder R2D2 an, der auf Beileidsbekundungen wartet. Gleich am Eingang gibt ein Übersichtsplan Auskunft über das Gelände. Es ist riesig! Ursprünglich war der Friedhof auch für alle Aschaffenburger Stadtteile angelegt worden, aber diesen Plan hatte man dann wieder verworfen. Das Areal ist in Quadrate eingeteilt – ganz unmetaphysisch von A1 bis F16 – und dann gibt es noch die Obere und die Untere Hauptallee. Also gut. Mit einer gewissen Bedrückung schlendern wir einfach mal drauf los und mit jedem Schritt durch die schöne, baumreiche Parkanlage mehren sich die Eindrücke. Hinter (bzw. unter) jedem Stein steht (bzw. liegt) ein Schicksal. Wer hat hier gelitten? Wer geweint? Wo war Erleichterung? Wo Schock? So vielfältig wie die Grabsteine in weiß, schwarz, rot (bei den neu zugezogenen auch in der Holzkreuzversion), mit Figuren, mit goldener, schwarzer, metallischer Schrift, so vielfältig die Menschen, die hier ihre letzte Ruhe finden: Es gibt Urnengräber, einen Bereich für Tot- und Frühgeburten, es gibt ein muslimisches Grabfeld, Baumgräber, bei denen schlichte Platten kreisförmig um einen Baum in der Wiese angeordnet sind und auch Kindergräber – bestückt mit Spielfiguren, Bügelperlenmustern, Spielzeugautos, Kuscheltieren oder Windrädern.
Da wird einem wieder klar, welche Tragödien sich hier abspielen. Welche Schicksale an diesem Ort täglich über die Menschen hereinbrechen. Dass das Leben endlich ist. Das ist natürlich keine wahnsinnig neue Erkenntnis, aber ein Spaziergang hier durch diesen schönen Waldfriedhof zeigt einem die Grenzen auf. Die Grenzen des Körpers und des Bewusstseins. Es erdet. Aber es zeigt eben auch, dass dieses kleine eigene Leben zwar ziemlich unbedeutend und nichts Besonders sein mag, aber andererseits eben auch ein Geschenk bedeutet. Ein Angebot des Schöpfers oder des Urknalls oder der Evolution oder von wem auch immer aus den paar Jahrzehnten das Beste zu machen, weniger zu jammern und mehr zu leben. In diesem Sinne. Das war’s. Happy Dead End!