
Foto/Illustration: Anika Koppenstedt
ALS WÄR’S ERST GESTERN GEWESEN …
Wir schreiben 1996, also genau das Jahr, in dem heutige Führerschein-Neulinge das Licht der Welt erblickt haben. Damals schickte sich ein junger, hochmotivierter Mann an, in einer kleinen Gemeinde am Bayerischen Untermain seinen „Lappen“ zu machen. Der Führerschein war und ist für die frisch Volljährigen der Inbegriff der absoluten Freiheit und legt dem erfolgreichen Prüfling von jetzt auf gleich auch die Welt zu Füßen, die sehnsuchtsvoll hinter der Einöde wartet, die man bislang lediglich per Fahrrad, ÖPNV oder ausgestrecktem Daumen entdecken konnte.
Wahlrecht, volle Geschäftsfähigkeit, heiraten ohne Einverständnis von Mama und Papa – alles eher so mittelgeile Privilegien im Vergleich zum wichtigsten Dokument des nach maximaler Mobilität lechzenden 18-jährigen Lebens. Aber zurück in das Dorf am Main, wo der Proband es an einem wolkenlosen Sommertag erstaunlicherweise fertigbrachte, den niegelnagelneuen Audi A4 der örtlichen Fahrschule während seiner Prüfung in einen wirtschaftlichen Totalschaden zu verwandeln. Noch viel erstaunlicher ist allerdings die Tatsache, den Führerschein anschließend trotzdem überreicht zu bekommen – war er doch an dem kapitalen Crash an einer Kreuzung kurz vor Aschaffenburg überhaupt nicht Schuld.
Dafür fuhr er selbst nach dem Unfall, der halbseitigen Straßensperrung, dem unvermeidlichen Polizeieinsatz und der ganzen Schleudertrauma-Jammerei des staatlich vereidigten Prüfers auf dem Rücksitz das Ding derart fehlerfrei nach Hause, dass den zuständigen Instanzen gar nichts anderes übrig blieb, als den rosafarbenen Dreiseiter mehr oder weniger feierlich auszuhändigen. Mit der druckfrischen Fahrerlaubnis in der Tasche vergingen die Wochen dann geradezu wie im Flug. Jede freie Minute wurde gefahren, gefahren, gefahren. Man würgte den Motor ziemlich oft und vornehmlich vor vollbesetzten Eiscafés ab – oder an sonstigen Plätzen mit viel Publikum, das anscheinend nichts anderes vor hatte, als den Straßenverkehr nach Jungfahrern samt noch nicht vorhandenem Verständnis für den Schleifpunkt abzuscannen. Da Übung aber bekanntlich den Meister macht, wurde jede noch so kleine Wegstrecke mit dem Auto erledigt und akribisch an der lässigsten Position des linken Ellenbogens bei heruntergelassenem Fester gefeilt. Am liebsten wäre man sogar vom Wohnzimmer zum Klo fahren, wenn es denn dort einen Parkplatz gegeben hätte.
Gestatten: Brinkmann
In diesen tollen Tagen logischerweise immer dabei: das erste Auto. Nichts im weiteren Verlauf eines Fahrerlebens wird je wieder diese (ideelle) Wertigkeit haben, diesen Coolnessfaktor besitzen und mit so vielen Anekdoten bedacht werden wie der erste eigene fahrbare Untersatz. Und sind der oder die Nachfolger noch so neu, breitbereift, hochglanzpoliert oder scheckheftgepflegt – nichts erreicht die erste Karre. Im Falle unseres Fahranfängers war dies ein weinroter VW Polo Fox, Steilheck, 1988 gebaut und mit einem nibelungentreuen Benzinmotor im knapp zweistelligen PS-Bereich ausgestattet. Ein Traum auf vier Reifen, die nicht sehr viel breiter waren als die des Fahrrades, das nun sehr vereinsamt im elterlichen Schuppen vor sich hin siechte. Im Rausch der Gefühle und zahlreicher Biere wurde der Volkswagen im sommerlichen Freundeskreis feierlich auf den Namen Brinkmann getauft. Und anschließend ausnahmsweise stehen gelassen, schließlich war man bei der Namensfindung schlicht und ergreifend hackstramm.
Brinkmann war – wie alle ersten Autos auf dieser Welt – nicht nur ein Vehikel. Er war einfach alles. Ein treuer Freund, der sich mit wenig zufrieden gab, immer artig ansprang und auch bei den ersten größeren Ausfahrten nicht schlapp machte. Eine prima Übernachtungsmöglichkeit für locker fünf Personen, wenn der Fahrer auf der Party bereits nach zehn Minuten selbstlos beschloss, seine Taxifahrerposition gegen Bier und Schnaps einzutauschen. Ein stiller Zeuge einiger aus heutiger Sicht ebenso heißblütiger wie unbeholfener Knutschereien zu schrecklichem Kuschelrock aus den zwei Zehn-Watt-Frontboxen. Ein Familienmitglied, bei dem man mitlitt wie bei einem Krankenhausaufenthalt, wenn Brinkmann mal wieder den Vergaser eingestellt bekam. Ein zuverlässiger Helfer in der Not, der im Freundeskreis mindestens genauso oft Starthilfe erteilte, wie er selbst benötigte. Erinnerungspieptöne gab es nicht, genauso wenig wie Einparkhilfe, elektrische Fensterheber, Start-Stopp-Automatik oder Airbags. Die Heizung machte aus Brinkmann im Sommer eine Sauna und im Winter einen Kühlschrank. Und doch hätte man ihn am liebsten zum Kuscheln mit ins Bett genommen. Liebe eben. Diese erlebte irgendwann jedoch ein jähes Ende, das so gar nichts mit Pilcher-Drehbüchern gemein hatte: „Koppdichtung. Lohnt sich net mehr“, lautete die kurze wie endgültige Diagnose des ölverschmierten Mechanikers nach einem Blick in den Motorraum.
Lebensabend in sonnigen Gefilden
Um Brinkmann und sich selbst den Weg zum „Autoverwerter“ – eine dieser brechreizerzeugenden Umschreibungen für kaltherzige Schlachter – zu ersparen, ermöglichte man ihm einen schönen Lebensabend in sonnigen Gefilden. Es war ganz bestimmt auch sein Wunsch, lieber irgendwo vier Jahre später am Rande der Nubischen Wüste für immer einzuschlafen, als im kalten Deutschland innerhalb von Minuten herzlos auseinandergerissen zu werden. Während der kleine Brinkmann also in Afrika zur Familienkutsche mutierte, stellte man sich daheim der fast unlösbaren Aufgabe, die Lücke zu schließen und überhaupt wieder ein Fahrzeug „an sich ranzulassen“. Ganz emotionale Kiste eben. Im konkreten Fall wurde daraus eine lange Exkursion quer durch die Welt der Marken und Modelle – vom „Erdbeerkörbchen“ (selbstverständlich mit Breitreifen und ohne Servolenkung) über einen kultigen MB Strich 8er mit Lenkradautomatik und eine sehr kurze Liaison mit einem Opel Omega Kombi bis zum gar nicht mal so üblen Mitsubishi Galant und zwei grundsoliden Audis.
Bis auf den Opel hatte alles irgendwie seinen Charme, man konnte sich gut leiden und verbrachte durchaus schöne Tage miteinander. Der zunehmende Ruf nach Beständigkeit mündete schließlich in einem unvermeidlichen 3er BMW, bevor plötzlich auftauchender Nachwuchs der automobilen Wankelmütigkeit ein Ende gebot und der erste Neuwagen angeschafft wurde. Nun steht also einer dieser sogenannten Familien-SUVs in der Einfahrt. Aber kann daraus Liebe werden? Wird man diesem Fahrzeug jemals auf langen, einsamen Autobahnritten sein Herz ausschütten? Ihm sanft über das Armaturenbrett streicheln? Schmerzerfüllt zusammenzucken, wenn jemand seine Tür zu fest und lieblos zuknallt? Wahrscheinlich nicht. Keiner ist so, wie Brinkmann war. Klingt total nach Pilcher, ist aber leider so.