Foto: Anika Koppenstedt
STREETS OF AB #8
Wer von der Autobahnabfahrt Aschaffenburg-West kommend nicht völlig den Überblick verliert, desorientiert abbiegt oder vor lauter Bewunderung des Schlosses Johannisburg am Horizont versehentlich in Nilkheim landet, der findet sich unweigerlich wenig später auf der Hanauer Straße wieder. Wer dann noch unbeirrt die Kreuzung Kolping-/Karlstraße passiert, dem sei hiermit herzlichst gratuliert – Aufnahmeprüfung zum achten Heimatkunde-Kurs bravourös bestanden!
Wie war das jetzt noch mal? Friedrichstraße stadteinwärts, also südlicher Verlauf? Oder doch wieder mit der Weißenburger Straße verwechselt? Nix da. Die grauen Zellen funktionieren noch! Ins Ascheberscher Herz führt natürlich Friedrich III. von Hohenzollern, im Jahre 1888 immerhin Deutscher Kaiser, höchstpersönlich. An der Ecke zur Erthalstraße zeigt er Interessierten zuerst einmal das Aschaffenburger Amtsgericht: Hier wurde seit der Fertigstellung 1960 schon so einigen Bösewichten der Prozess gemacht. Nur selten hat man allerdings die Gelegenheit, das Richterberatungszimmer mit dem beeindruckenden Wandbild „Justitia“ von Christian Schad und seiner Frau Bettina zu besichtigen …
Vis-à-vis erinnert ein Denkmal im offenen Schöntal an finstere Zeiten: Zu Ehren der im Deutsch-Französischen Krieg von 1870–1871 gefallenen Forstkandidaten errichteten die drei Senioren-Convent-Corps in Aschaffenburg jenes Mahnmal. Wer übrigens das Bayerische Nizza (aus welchen unverständlichen Gründen auch immer) wieder verlassen möchte, der wähle später getrost die Weißenburger Straße – schließlich sind beide Pfade immer noch parallel verlaufende Einbahnstraßen, die lediglich vom eben erwähnten offenen Schöntal getrennt werden. Jenes ist ein Teil des früheren Grabens vor der Stadtmauer – mit dem Bau der Eisenbahn begann die Ausdehnung Aschaffenburgs nach Norden. Der Grünstreifen markiert allerdings bis heute den Beginn der historischen Altstadt. Gar nicht von gestern ist hingegen das neue Luitpold-Parkhaus. Im gleichen Gebäudekomplex ist auch das Tanzparadies und die Fun Fabrik Bowl beheimatet. Nirgendwo sonst lässt sich so gepflegt eine ruhige Kugel schieben! Kulturell hatte die Friedrichstraße schon 1947 etwas zu bieten: Das zweite Aschaffenburger Kino, die Bavaria-Filmspiele, wurden dort eröffnet. In den siebziger Jahren entwickelte es sich allerdings zu einem sogenannten „Sex- & Crime-Kino“ – 1985 war deshalb wieder Schluss mit dem filmischen Vergnügen.
Stadtbekannt: der Herstallturm
Dafür ist seit Oktober 2011 ein gepflegter „Meinungsaustausch am Stadtgraben“ möglich – der Sulzbacher Bildhauerin Helena Papantonioy sei dank: Mit ihrem Brunnen in Form von zwei plaudernden Köpfen aus hellgrauem, afrikanischem Impalagranit auf Höhe der Hauptgeschäftsstelle der Sparkasse Aschaffenburg-Alzenau, die hinter der Hausnummer 7 zu finden ist, wird Kommunikation neu definiert. Wenige Meter vom sprudelnden Nass entfernt trifft man auf das Graslitzer-Denkmal. Lässt man nun den Blick gen Osten schweifen, kann man ihn nur übersehen, wenn man überreife Tomaten auf den Augen hat: den Herstallturm. Ursprünglich gab es zwei dieser Exemplare, die das Herstalltor der ehemaligen Stadtmauer „bewachten“. Man nimmt an, dass sich „Herstall“ daher ableitet, dass die Ritter (also Herren) hier lagerten, bis sie zu den Waffen gerufen wurden. Seit dem 16. Jahrhundert prägt der Turm nun schon das Stadtbild. Ihm gegenüber befand sich ab 1907 ein Kriegerdenkmal, dass im Volksmund gerne „Nackischer“ oder „Siegfried“ genannt wurde – mittlerweile steht ein Teil der Figuren in historischen Gebäuden des Nilkheimer Parks. Historische Momente haben die Ascheberscher allerdings auch mit ihm erlebt: dem berühmt-berüchtigten Feierkreisel, von dem die Goldbacher Straße, die Platanenallee sowie die Heinsestraße abzweigen. Höchste Eisenbahn für eine Kehrtwende – Zeit für die Weißenburger Straße! Nein, die Damen, wir haben jetzt auch keinen Linksdrall in die Herstallstraße. Seid euch sicher, dass sich die FRIZZen diesem Shopping-Eldorado in einer eigenen Heimatkunde-Lektion widmen …
Für Leckermäuler!
An der Ecke Goldbacher/Weißenburger Straße stand zwischen 1805 und 1862 übrigens eine Kaserne. Diese fiel jedoch einem Brand zum Opfer und wurde nicht wieder errichtet. Dieser Pfad war in der Tat bereits in frühen Tagen sehr fortschrittlich: 1850 wurde hinter der Hausnummer 10 die erste Telegraphenstation für Privatgespräche in Betrieb genommen. Die heiß ersehnte Linie Bamberg–Frankfurt war den Aschaffenburgern somit endlich zugänglich. Für einen optimalen Durchblick dank exklusiver Brillenmodelle sorgt heute das Team von Christian Bartels Optik hinter der Hausnummer 6. Um die Qual der Wahl zu verdauen, kann man gleich nebenan im Cena den Einkehrschwung üben – die Location überzeugt gleichermaßen mit schillernden Afterworkpartys, einer enormen Brunch-Vielfalt sowie als stylische Cocktailbar.
Abschied nehmen musste man jüngst von dem Ort, an dem Literatur zuhause war: Das Team der Buchhandlung Pfeiffer versorgte die Aschaffenburger seit 1950 mit Lesestoff – seit 30 Jahren in der Weißenburger Straße 14. Was fast niemand weiß: Ab 1946 existierten in dieser Straße ein Schauspielhaus sowie eine Stadtbücherei, die 1963 aus der Landingstraße „importiert“ wurde. Glücklicherweise müssen Leckermäuler heutzutage nicht auf das Hotel und Café Fischer verzichten: Seit über 50 Jahren verwöhnt das Team seine Gäste mit Feinstem aus der eigenen Konditorei und Confiserie. Der Meisterbetrieb befindet sich mittlerweile sogar in der vierten Generation! Wem es eher nach deftiger Kost ist, der statte dem Hannebambel in der Kleberstraße einen Besuch ab: Ob Volxküche, Pizza- oder Schnitzeltag – bei den Bambelianern gibt’s Essen zu fantastischen Preisen. Rechter Hand ist übrigens der Hauptbahnhof nun nicht mehr weit entfernt.
Freizeitvergnügen wurde in der Weißenburger Straße indes schon immer groß geschrieben: 1907 eröffnete an der Ecke zur Duccastraße das Ludwigsbad mit Kalt- und Warmwasserbädern. In leicht abgewandelter Form existiert es immer noch, heute vor allem mit physiotherapeutischen Angeboten, Sauna und Dampfbad. Hinter der Hausnummer 54 wurde 1919 übrigens die Herrenkleiderfabrik Koechling & Lautenschläger gegründet. Einen Steinwurf davon entfernt kommt heute in Windeseile Fernweh auf: In ihrer Flamenco-Tanzschule zeigt Tanja la gatita, wie feurig Andalusien sein kann. Genug der Heimatkunde – jetzt darf zu den Kastagnetten gegriffen werden!