©Till Benzin
Gesta e.V.
Zartes Frühlingserwachen nach Rekordminustemperaturen lässt uns aufatmen, unsere Drahtesel polieren und wieder fahrtauglich machen. So ähnlich dachten wohl auch im Februar Mitarbeiter des Bauhofes und der Radverkehrsbeauftragte der Stadt Aschaffenburg, die gemeinsam stolze 47 Schrotträder aus dem Stadtbild entfernten und an den 2013 gegründeten Gesta e. V. (Gesellschaftliche Teilhabe für Alle) zur Aufbereitung übergaben.
Die Gruppierung hat es sich u.a. zur Aufgabe gemacht, reparaturbedürftige Zweiräder herzurichten und an Bedürftige – gegen ein geringes Entgelt von zehn Euro für Erwachsene und fünf Euro für Kinder bis 16 Jahren – abzugeben. Jeder, der einen Grenzenlosausweis oder einen Kulturpass vorzeigen kann, ergattert eines der vergünstigten Räder. Hierfür verlässt sich der Verein auf Fahrradspenden und entlockt jenen jegliches „Potenzial“. Das bedeutet auch, dass ausgeschlachtet wird und die Überbleibsel für die Reparatur eines anderen Rades oder für kreative Kunstwerke herhalten dürfen.
Auf diese wirklich grandiose Idee kam Leander Hock (56), gelernter Elektrotechniker, samt Frau Anette Koch (54) aus Obernau. Mit Herzblut dabei ist auch Sohnemann Matthias Hock (31), er ist gelernter Zimmermann – was bei der Arbeit in der Werkstatt und im restlichen Gebäudekomplex, der alten Rollerfabrik in Damm, oft eine große Erleichterung darstellt. Alle drei sind waschechte Fahrradfans und -fitmacher. Die Familie wollte schon länger etwas tun, etwas um „Menschen aus Parallelgesellschaften zu integrieren und ihnen einen Platz zu bieten.“ Menschen ohne Arbeit oder auf dem Weg zurück in einen solchen Alltag eine Chance zu geben, ist ihre Mission.
Wie alles begann
Die finale Idee einer Fahrradwerkstatt entwickelte sich dank den Schülern des Dalberg-Gymnasiums: Im Frühling 2015 sammelten diese stolze 500 Räder für bedürftige Menschen. Diejenigen Drahtesel, die kaputt waren, wurden zunächst jedoch hoffnungslos auf dem Speicher der Schule verwahrt. Da sich allerdings viele Fahrrad-Interessenten meldeten, bot sich der Trupp von Gesta e. V. der Stadt Aschaffenburg für die Reparatur der übrig gebliebenen Räder an. Völlig begeistert von der guten Zusammenarbeit und vor allem dem tollen Ergebnis hielt die Stadt an diesem Projekt fest und verschaffte dem Verein Zugang zum Europäischen Sozialfond, der die Engagierten noch bis zum Herbst 2017 finanziell unterstützte.
Momentan warten schätzungsweise 60–70 Räder auf Reparatur und 40 Interessenten stehen auf der Warteliste hierfür. Leander Hock präsentierte beim Interviewtermin stolz die Zahl 1.309: So viele Drahtesel wurden seit Sommer 2015 aufbereitet und abgegeben. Jedes Rad erhält seine Nummer, wird fotografiert und in einer Datenbank festgehalten. Der Besitzer erhält sogar einen Fahrradpass für den Fall eines Diebstahls. Gut durchdacht ist halb geschafft! An zwei Nachmittagen pro Woche lädt das Team um Fahrradheiler Roland Lehmer zum Selbstreparieren ein: Dienstags und donnerstags von 14–17 Uhr stellen Lehmer und Co. hierfür alles auf dem Hof zur Verfügung und helfen mit Herzblut jedem, wo es nur geht.
Und so wächst der Verein mit zwölf aktiven und passiven Mitgliedern sowie fünf festen Angestellten Stück für Stück. Aktuell unterstützen Menschen von 15–70 Jahren aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten und mit den vielfältigsten Interessen den Verein: Rentner finden ihre Aufgabe genauso wie Flüchtlinge. Es gibt immer etwas zu tüfteln, zu organisieren oder aufzuräumen. Alles erfolgt auf freiwilliger Basis, denn der Leitfaden des Vereins ist simpel: Kein Druck, keine Pflicht – Kontakte und Begegnungen sollen an oberster Stelle stehen. Man dürfe laut Leander Hock auch einfach nur auf einen Kaffee vorbeikommen. Wenn man einer Idee nachgehen möchte, versucht der Gesta-Trupp dafür die Mittel zu stellen. Daher an dieser Stelle der Hinweis, dass sich der Verein durch Geld- und Sachspenden finanziert und immer dankbar für Stoffe, Nähutensilien, Räder, Fahrradzubehör und vor allem Helferinnen und Helfer ist.
Nähwerkstatt & weitere Projekte
Doch mittlerweile wird weitaus mehr als „nur“ Fahrräder in Damm angeboten: Mittwochs und freitags finden Nähkurse mit einer gelernten Fachfrau statt. Verbraucht werden lediglich gespendete Materialien, sodass möglichst wenig im Mülleimer landet. Man darf Annette Kochs Worten nach „absolut blutiger Anfänger“ sein! Priorität hat der Spaß am Nähen lernen sowie der Kontakt zu anderen Menschen und zu verschiedenen Sprachen, da in der Nähwerkstatt viele Flüchtlingsfrauen ihrer Leidenschaft nachgehen. Ab und an werkeln die Damen nicht nur für sich, sondern gehen auch gekonnt in die Produktion einzelner individueller Stücke. Dank dieser nahm der Upcycling-Shop seinen Lauf: Nachhaltige Erzeugnisse aus der Nähwerkstatt und höchst kreative Produkte aus der Fahrradwerkstatt werden angeboten. Was man dort so findet? Angefangen bei Bucheinbänden, Beuteln und Yogakissen bis hin zu Sattelbezügen, Uhren und Lampen aus Fahrradabfall. Unikate, die man sich sogar aus seinem eigenen Drahtesel kreieren und bauen lassen kann, ohne dabei die Umwelt zu belasten. Gerade, weil man so etwas gerne vorab sieht und fühlt, plant das Team einen Shop vor Ort, aber auch der Onlineshop wird noch kräftig ausgebaut und für Käufer optimiert.
Außerdem sind Yoga-, Tai-Chi- und Taekwondokurse für Frauen in den Räumlichkeiten kostenfrei nutzbar. Doch das ist längst nicht das gesamte Angebot von Gesta: Das sogenannte Shared-Space-Büro bietet Vereinen wie commit and act e.V. einen Arbeitsplatz samt Infrastruktur gegen ein geringes Entgelt. Somit kommt es wieder zu den gewünschten Begegnungen. Zudem ist Gesta ab und an Gastgeber des Repair Cafés und ab April fester Veranstaltungsort für das Food-Sharing, das bisher im Familienstützpunkt Hefner-Alteneck stattfand. Geplant ist weiterhin ein Lastenradverleih für Menschen ohne Auto. Diese müssen schließlich trotzdem einen Umzug mit Waschmaschine stemmen können. Damit ist noch immer nicht Schluss, ein Bookcrossing-Stand in Form einer Telefonzelle hat es den Vereinsgründern, vor allem Anette Koch, besonders angetan. Wir sind jetzt schon gespannt, wo das kultige Teil wohl in Zukunft zu finden und zu nutzen sein wird.